Alles fühlen: Eine lebendige Beerdigung

buntgestreifte Bank

Alles fühlen: Eine lebendige Beerdigung

In „Alles fühlen“ beleuchte ich Situationen von hoher Gefühlskomplexität. Hochsensible Menschen nehmen besonders viel wahr, auch Gefühle. Dies kann sich überwältigend anfühlen. Je bewusster man registriert, was innerlich abläuft, desto leichter wird es. „Alles fühlen“ unterstützt diesen Bewusstmachungsprozess mit Beispielen.

 

Heute habe ich eine eindrucksvolle Beerdigungserfahrung machen dürfen. Martin hatte sich für seine Beerdigung ein buntes Fest gewünscht, zu dem die Gäste bitte nicht in Schwarz gekleidet kommen sollten. Es fühlte sich erst einmal etwas seltsam an, als ich heute  morgen in meine orangene Hose stieg und einen knalligen Schal umlegte. „Stand das da auch wirklich? – Was, wenn ich die Einzige bin? – Kann man das machen?“ Solche Gedanken schossen mir durch den Kopf.

Als ich im Trauergottesdienst saß, durchflutete mich ein Gefühl der Leichtigkeit, weil ich spürte, dass diese Familie alles Lebendige zutiefst bejaht. Die Lebendigkeit zeigte sich in den bunten Farbtupfern um mich herum. Ohne dass es künstlich wirkte, hatten die meisten Menschen irgendein leuchtendes Kleidungsstück an. Einen roten Pullover, einen orangenen Schal, eine helle Jacke. Schwarz sah man kaum, lediglich mal eine dunkle Hose hier und da. Die bunte Mischung strahlte etwas von Erlaubnis aus: die Erlaubnis, alle Gefühle, die da sein wollten zu fühlen. Es war, als fiele die konventionelle Gefühlserwartung ab, dass es hier bitteschön um Trauer gehen müsse. Welch eine Erleichterung!

Als ich mir selbst diese Gefühlserlaubnis gegeben habe, konnte ich wahrnehmen, welche Vielfalt an Gefühlen da war:

Es war ein tiefes Berührtsein von der Symbolik, die einem in der Kapelle entgegenkam: Die ganze Kapelle war über und über behängt mit Martinsleuchten. Sie hingen dort schon vor der Trauerfeier und doch war es, als seien sie für Martin dort aufgehängt, zu seiner Trauerfeier, die auch noch an seinem Geburtstag stattfand.

Dann war da eine Leichtigkeit, fast schon Heiterkeit im Raum.

Daneben auch Traurigkeit.

Und dann war da das Hauptgefühl von Dankbarkeit. Normalerweise schwemmt es mich bei Beerdigungen immer weg, und ich war erst irritiert, dass es hier anders war. Doch empfinde ich in diesem Fall vor allem Dankbarkeit für die geschenkten 5 Jahre, die Martin nach einer niederschmetternden Krebsdiagnose hatte und die mit so viel Leben und Liebe gefüllt waren. Das war echte Bonuszeit.

Und ganz viel Mitgefühl mit seiner Familie.

Und Freude, dass so wahre Worte gesprochen und auf alle Floskeln verzichtet wurde.

 

Alles fühlen, dann ist es gut

Ich erinnere mich noch gut daran, wie es war, als ich die Vielzahl an Eindrücken und Gefühlen noch nicht so bewusst wahrnehmen konnte. Da hat mich eine solch vielschichtige Situation schnell in eine Überforderung versetzt oder in eine Ausweichhandlung getrieben. Einfach, weil es zu viel war und ich nicht wusste, wohin damit. Es ist ein bisschen so, als müsse das Nervensystem erst lernen, mit dem Starkstrom, der da fließt, zurecht zu kommen. Die Lösung ist nicht, den Strom zu drosseln, sondern den Leitungen die Möglichkeit zu geben sich umzubauen, starkstromgerecht zu werden. Das passiert dann, wenn wir ein Gewahrsein dafür entwickeln, was in uns geschieht. Wenn wir die Gefühle zulassen, sie einfach wahrnehmen, ohne etwas damit zu machen.

Das braucht etwas Übung, aber es ist der beste Weg, um als Vielfühler gut klar zu kommen. Gefühle, die man einfach nur wahrnimmt, ohne eine große Geschichte daran zu hängen, die laufen durch und verschwinden auch wieder. Es sind nicht die Gefühle, die uns anstrengen, sondern der Versuch, die Gefühle zu kontrollieren, weil unerwünschte dabei sein könnten.

Wenn du deine Gefühle fühlst, räumst du mit deinen Altlasten auf und wirst innerlich immer freier.

Die Feinfühligkeit wächst, die Resilienz ebenfalls und mit jedem von Altlasten befreiten Gefühl steigt die Fähigkeit, tiefes Glück zu empfinden.

 

Die Symbolik des Lebens

Als mir bewusst wurde, welche Gefühlsbuntheit während der ganzen Beerdigung in mir pulsierte, wuchs das Bedürfnis, diesen Text zu schreiben. Ich hatte schon die bunten Blätter als Fotomotiv im Auge, als ich vor dem Lokal, in dem wir zusammenkamen, über diese Bank stolperte. Diese Szene veranschaulicht perfekt den Gegensatz zwischen der Buntheit gelebter Gefühle und der schwarzen Tristesse, die von eingesperrten (oder in Konventionen verhafteten) Emotionen ausgeht.

Danke, Martin, für dieses Erleben von Lebendigkeit anlässlich deines Todes! Tod und Leben gehen Hand in Hand. Der Körper stirbt und die Seele lebt. Nie war es deutlicher.

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