Hochsensibilität im Unternehmen

Ohr lauscht am GrasWir alle kennen das Bild vom Superhirn, dem hochbegabten Computerexperten, der auf seinem Gebiet in atemberaubendem Tempo herausragende Leistung erbringt. In zwischenmenschlichen Belangen ist er eher weniger kompetent, wirkt unbeholfen und versteckt sich gerne hinter seinen Monitoren. Hier eingesetzt vollbringt er jedoch Wunder. Über hochbegabte Menschen ist bereits einiges bekannt. Man verzeiht dem beschriebenen Superhirn seine Schrulligkeit, er ist halt speziell. Für ein Unternehmen zahlt er sich aus, wenn er an der richtigen Stelle eingesetzt wird.

Wie sieht es aber mit Menschen aus, die auf einem ganz anderen Gebiet ebenfalls hochbegabt sind – den hochsensiblen Menschen?

Auch sie haben herausragende Fähigkeiten, die aber häufig nicht zum Zuge kommen. Hochsensible fallen weniger auf, sind vom Naturell her häufig (wenn auch nicht immer) eher zurückhaltend und wirken im Hintergrund. Sie werden gerne zurate gezogen, wenn es intern zu Streitigkeiten kommt und man ein offenes Ohr sucht, denn ihre zwischenmenschliche Kompetenz ist zuverlässig und wird gerne in Anspruch genommen. Im Job zeigen sie ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Detailgenauigkeit und führen Arbeiten mit großer Gewissenhaftigkeit aus.

Doch ihr wahres Talent liegt in den meisten Unternehmen brach: Nämlich ihre Fähigkeit Sachverhalte vorausschauend in großen Zusammenhängen zu erfassen. Hochsensible Menschen nehmen bereits kleinste Anzeichen wahr und können sie zuverlässig deuten. Dadurch erkennen sie Missstände bereits, wenn alle anderen sich noch in Sicherheit wiegen. Sie sprechen eine für sie völlig absehbare Entwicklung mit Selbstverständlichkeit aus und ernten dafür Ablehnung und Kritik. Denn die normal sensiblen Kollegen sehen die Anzeichen zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass dieser Mitarbeiter für seine vorausschauende Prognose, im Nachhinein – wenn die Umstände dann genau so eingetroffen sind, wie er es vorausgesagt hat – kein Lob erhält, ist aus menschlicher Sicht verständlich. Wer möchte schon gerne zugeben, dass er eine berechtigte Warnung ignoriert hat und dass eine kleine Mitarbeiterin vielleicht die größere Vorausschau bewiesen hat als der Abteilungsleiter?

Dies ist zwar menschlich nachvollziehbar, doch wird hier eine extrem wertvolle Ressource verschenkt. Was würde es denn für ein Unternehmen bedeuten, wenn es einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin genau für diesen Zweck einsetzten: Das Ohr am Puls der Zeit zu haben, nach Fehlern im System zu suchen, menschliche Missstände, die zu Unzufriedenheit und damit geringerer Produktivität führen auszumachen und Trends frühzeitig zu erspüren. Und kreative Lösungen zu entwickeln. Ein solches Berufsbild würde die außergewöhnlichen Begabungen eines hochsensiblen Menschen optimal nutzen. Das Unternehmen wäre gesünder, schneller und würde weniger Fehler korrigieren müssen.

Umdenken ist nötig

Um diese Ressource zu erschließen ist allerdings Umdenken nötig. Die Fähigkeiten von denen hier die Rede ist, sind störanfällig. Die außergewöhnliche Reizverarbeitung, die hochsensible Menschen mitbringen, hat ihre Kehrseite – ebenso wie bei dem intellektuellen Genie, das menschlich wenig kompetent ist. Kurz gesagt: Wer auf Reize früher reagiert, also feinere Reize wahrnimmt, der ist auch schneller überreizt. Sein optimales Reizspektrum, also die Reizintensität, die bei ihm/ihr zu besten Ergebnissen führt, ist anders gelagert als beim Bevölkerungsdurchschnitt. Jemand mit einer niedrigen Reizschwelle kann nicht in einer Umgebung arbeiten, die für die Norm gemacht ist. Eine solche Situation führt bei ihm zu Überreizung und Stress. Die Folge ist, dass er deutlich weniger Leistung bringt als er könnte. Und genau das ist die derzeitige Situation. Viele hochsensible Menschen, die ihre Gabe noch nicht bewusst als solche erkannt haben, stecken in einem Dilemma: Einerseits spüren sie, dass sie unter ihren Möglichkeiten bleiben, andererseits leben sie in einer ständigen Reizüberforderung.

Missstimmung am Arbeitsplatz, eine surrende Heizung, zotige Witze, Dauergeräusche, Ungerechtigkeiten, ein Großraumbüro, Neonlicht, fehlendes Tageslicht, mangelnde Ästhetik, die Liste der Einflüsse, die sich belastend, irritierend und überreizend auf den hochsensiblen Mitarbeiter auswirken kann (nicht muss) ließe sich lang fortsetzen. Im normalen Berufsalltag führt der hochsensible Mitarbeiter derzeit einen Überlebenskampf. Er muss sehr viel Energie darauf verwenden, irgendwie klarzukommen und durchzuhalten. (Dass er dies über lange Strecken schafft, ist wiederum ein Zeichen für große Ausdauer und Resilienz, zwei weitere typische Eigenschaften.) Aber er läuft unter derart „falschen“ Bedingungen, dass er seine eigentliche Begabung nicht entfalten kann.

Solange er seine eigene Veranlagung noch nicht erkannt hat, versteht er selber nicht, warum er bereits nach 4 Stunden im Großraumbüro völlig erschöpft ist, findet keinen Ausdruck für das Dilemma aus Unterforderung und gleichzeitiger Überforderung. Hier ist noch viel zu entdecken. Für den Einzelnen ebenso wie für Unternehmen.

Unternehmer sollten sich fragen: Wie wichtig sind überdurchschnittliche Fähigkeiten für einen Betrieb?

Ist das Unternehmen in der Lage, auf besondere Bedürfnisse zu reagieren um so besondere Leistungen möglich zu machen? Hier liegt meines Erachtens ein riesiger Schatz zu heben. Ein Schatz, der erst sehr langsam öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Einzelne Hochsensible beginnen zu entdecken, dass hinter ihrem vermeintlichen Manko ein besonderes Talent steckt. Und sie reagieren darauf. Sie suchen sich die Arbeitsumstände, die besser zu ihnen passen – häufig ist es die Selbständigkeit.

Lassen die Unternehmen sie einfach ziehen oder beginnen sie, sich ihrer wertvollen Ressource bewusst zu werden??