Hochsensible, ihr Nervensystem und das Leben
Als mir gerade diese Überschrift in den Sinn kam, musste ich innerlich lachen. Wenn ich über hochsensible Menschen schreibe, ist es fast so, als würde ich nicht nur über einen Menschentyp schreiben, sondern parallel gibt es diese zweite Existenz, die immer da ist und die so etwas wie ein Eigenleben führt: Das Nervensystem. Dieses ist bei hochsensiblen Menschen höchst aktiv und fein getunt. Nicht immer laufen die eigenen Interessen synchron mit den Reaktionen, die das Nervensystem produziert. Deshalb ist es gut, es verstehen zu lernen. Mit Toleranz und Verständnis für diesen Gefährten kommen wir besser durchs Leben.
Darf ich vorstellen: Dein Nervensystem
Jeder Mensch ist ein hochkomplexes Wesen, das über ein ausgeklügeltes Nervensystem verfügt. Dieses Nervensystem ist immer ON. Wenn es gut für dich läuft, ist dein Nervensystem in einem ruhigen Standby-Zustand. Doch bei vielen Hochsensiblen liegt es ständig auf der Lauer, um zu schauen, ob eine Gefahr droht und es die Notfallprogramme starten muss: Kampf, Flucht oder Totstellen.
Eigentlich sind diese Reaktionsweisen für eine akute Gefahrenlage gedacht, z.B. einen Säbelzahntiger, der plötzlich vor dir steht. Nun ist die Einschätzung einer Gefahrenlage aber eine höchst subjektive Angelegenheit. Die Einschätzung, was als Gefahr gewertet wird und was nicht, entsteht in der Zeit, in der sich unser Nervensystem formt, in der Schwangerschaft und frühen Kindheit. Hier werden – zusätzlich zu den genetischen Veranlagungen – die Wurzeln dafür gelegt, ob ein Mensch robust-gelassen durchs Leben geht oder feinspürig-schnellreagierend.
In dieser Zeit verschalten sich Reize mit bestimmten Interpretationen. Dadurch entsteht der Auslöser für den innere Alarm, also den Trigger, der das Notfallprogramm startet. Das, was wir in der Kindheit erlebt oder als Rollenbild geerbt haben, formt unser Nervensystem. Wenn wir als Kind einen Elternteil als bedrohlich erlebt haben, z.B. weil er laut wurde, kann das dazu führen, dass wir als erwachsener Mensch auf laute Stimmen sehr stark reagieren – selbst, wenn wir (aus Erwachsenensicht) nicht in Gefahr sind. Ein anderes Nervensystem ist vielleicht eher auf unterschwellige Stimmungen geeicht. Es hat vielleicht die Erfahrung abgespeichert, dass die Eltern ihre Gefühle unterdrückt haben und nicht gut in Kontakt waren, was bei den Beteiligten zu Unglück geführt hat. Für das Kind kann elterliches Unglück als Bedrohung erlebt werden, die sich kindlichen Nervensystem verankert.
Die Palette dessen, was ein Nervensystem in Alarm versetzen kann, ist groß und höchst individuell. Sichtbar wird eine solche Prägung immer dann, wenn du merkst, dass du sehr stark oder unangemessen reagierst, also stärker, als es die Situation eigentlich erfordert. (Schnell in Tränen ausbrechen, starke Verlustangst, sofortiger Rückzug bei einer Abweisung, Wutausbrüche aus kleinem Anlass, von 0 auf 100 in Sekundenschnelle usw.)
Wir haben das Nervensystem immer dabei, ob wir wollen oder nicht
Wenn sich zwei Menschen begegnen, dann kommunizieren ihre Nervensysteme bereits miteinander, noch bevor sie das erste Wort gewechselt haben. Das Nervensystem führt als erstes den Check durch: Ist dieser Mensch sicher?
Das läuft in Millisekunden ab. Das Ergebnis zu dem dein Nervensystem kommt, führt dazu, wie dieser Kontakt weiter geht, ob dir der Mensch gegenüber sympathisch oder unsympathisch ist, ob du dich öffnen möchtest oder nicht. Oder ob es lieber noch eine Weile wachsam auf der Lauer bleibt…
Wenn man sich nicht bereits sehr ausführlich mit diesen Vorgängen befasst hat, laufen sie unbewusst ab. Doch sie betreffen jeden Menschen, egal, welche Prägung und welchen Umgang er im Laufe seines Lebens erfahren hat. Das Nervensystem spielt immer mit. Und häufig funkt es in die Beziehungen.
Ein aktiviertes Nervensystem verhindert Flow und den Zustand des Verbundenseins
Stress ist nichts anderes als ein dauerhaft aktiviertes Nervensystem. Menschen, die in Umständen leben oder arbeiten, in denen ihr Nervensystem nie zur Ruhe kommt, haben keinen Zugriff auf ihr volles Potenzial. Im aktivierten Zustand fühlen wir uns mit uns selbst nicht verbunden und erleben keine Zustände von Flow. Ein aktiviertes Nervensystem führt zu einem verengten Fokus (Tunnelblick), zum Herunterfahren bestimmter Körperfunktionen und zur Ausschüttung von Stresshormonen. All diese Reaktionen sind eigentlich für den Notfall gedacht und leisten dort extrem gute Dienste.
Als Dauerzustand ist diese Funktion aber nicht gemacht. Ein System, das kontinuierlich unter Alarm steht, erlebt weniger Freude, kann nicht entspannen und wird irgendwann krank. Krank wegen Dauerstress. Wenn wir Stress und Burnout betrachten, sollten wir unseren Blick mehr auf unsere innere Verarbeitung richten als nur im Außen nach den stressenden Faktoren zu suchen.
Es braucht sichere Räume
Das Erfreuliche ist, dass unsere Nervensysteme in dem, was sie brauchen, gar nicht so unterschiedlich sind. Wir alle brauchen sichere Räume. Damit meine ich Zeiten und Menschen, in denen unser System „SICHER“ meldet. Wenn wir diese Rahmenbedingungen vorfinden, können wir entspannen. Ein Mensch mit einem entspannten Nervensystem kann regenerieren, in Flow kommen und in diesem Zustand zu Höchstform auflaufen. Er fühlt sich wohl und hat Zugriff auf seine Ressourcen.
Viele meiner KlientInnen haben in ihrer Kindheit die Erfahrung von unsicheren Bindungen gemacht. Sie reagieren sehr stark auf die Erfahrung eines geschützten Raumes und den sicheren Kontakt, den ich ihnen anbiete. Häufig reicht eine neue, positive Referenzerfahrung bereits aus, damit das Nervensystem eine Neubewertung vornehmen kann.
Was braucht es, damit das Nervensystem sich sicher fühlt?
Ein wichtiger Punkt ist Orientierung, also die Transparenz darüber, was gerade läuft. Das kann sich auf Arbeitsabläufe beziehen oder auf Zwischenmenschliches. Hilfreich, um Orientierung zu erlangen ist es, wenn wir erst einmal bewusst wahrnehmen, wenn wir gerade nicht orientiert sind. Dann können wir dafür sorgen, Orientierung zu erlangen.
Im Zwischenmenschlichen erleben wir Menschen dann als sicher, wenn diese eindeutig in ihrem Selbstausdruck sind, wenn also Worte, Handeln und Körpersignale übereinstimmen. Einen solchen Menschen erleben wir als „authentisch“, also in sich stimmig. Wir können ihn einschätzen, wissen, woran wir bei ihm sind. Das schafft Vertrauen.
Verbundenheit und Zugehörigkeit sind weitere Bausteine für das Gefühl von Sicherheit. Gleichzeitig braucht es die empfundene Sicherheit um sich verbunden und zugehörig fühlen zu können.
Was kann man tun, um sein Nervensystem zu entspannen?
Im Grunde ist mein ganzes Leben geprägt von dieser Suche. Was hilft, ein übererregtes Nervensystem zu regulieren und auszubalancieren? Was brauchte es, um langfristig in einen entspannteren Zustand zu kommen? Wie verändert man alte Prägungen?
In meiner Arbeit findet sich all das wieder, was ich als hilfreich erfahren habe:
Bewusstsein: Wir dürfen überhaupt erst einmal die bewusste Wahrnehmung dessen lernen, was in und um uns herum gerade abläuft. Die Wahrnehmung in Kombination mit dem Wissen um die eigenen Reaktionen können wir dann neu und anders reagieren.
Neue Referenzerfahrungen: Ein Mensch, der die Erfahrung eines sicheren Settings macht, kann hier eine Neubewertung erfahren. In den meisten Coachings passiert dies automatisch.
Aufstellungsarbeit: In den Aufstellungen nehmen wir mithilfe von Stellvertretern direkten Einfluss auf die Nerven-Verschaltung, die durch Ereignisse oder Personen in der Vergangenheit entstanden sind. Die alte, im Nervensystem abgespeicherte Bewertung wird sichtbar, fühlbar und kann sich wandeln. Es ist, als würde ein Mensch mithilfe des Stellvertreters seine kindliche Prägung gezeigt bekommen, sie als erwachsener Mensch erkennen und dadurch verändern. Nach einem solchen Prozess ist die kindliche Prägung meist verschwunden und der Mensch kann in Situationen, die früher den Trigger aktiviert haben, nun aus seinem erwachsenen Ich agieren. Der Trigger greift nicht mehr.
Befreunde dich mit deinem Nervensystem
Ja, ihr lieben hochsensiblen Nervensysteme, wir haben da einen etwas herausfordernden Gefährten an unserer Seite, mit dem wir mal besser, mal weniger gut zurechtkommen. Unser Nervensystem spricht in allem, was wir tun mit, ganz besonders in Beziehungen. Es ist also gut, wenn wir uns besser kennen lernen und verstehen, was dieses komplexe Gebilde eigentlich braucht, damit es ihm gut geht.
Das Schöne ist: Unser Nervensystem ist flexibel und kann das ganze Leben dazulernen und umgebaut werden. Gute Voraussetzungen für innere Frieden ?
Foto: Gerd Altmann