Zu viel fühlen – zu wenig fühlen
Hochsensible Menschen sind in der Regel sehr emphatisch, sie fühlen mit. Leid und Freude anderer Menschen kann sie zutiefst bewegen und sie haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der ebenfalls diese Gabe des Mit-Fühlens entspringt. Zusätzlich fühlen sie viel von dem, was zwischen Menschen abläuft, spüren, was unausgesprochen bleibt, bekommen unterdrückte Emotionen mit oder nehmen Widersprüche wahr zwischen dem was jemand mit Worten sagt und dem was er auf andere Weise ausdrückt.
Kaum ein hochsensibler Mensch trifft jedoch auf Lebensumstände, in denen mit dieser ausgeprägten Feinfühligkeit wertschätzend umgegangen wird. Im Gegenteil. Häufig wird seine Wahrnehmung angezweifelt (Das bildest du dir ein) oder abgewertet (Was du schon wieder hast, du musst dir mal ein dickeres Fell zulegen.) In jedem Fall landet der schwarze Peter bei dem, der anders/mehr/intensiver fühlt. Er scheint falsch zu fühlen.
Die Seele sucht natürlich einen Ausweg aus dem Dilemma. Die Überlebensstrategie kann darin bestehen, dass Gefühle abgeschaltet oder ausgeblendet werden. Wenn Fühlen zu schmerzhaft war oder nie als richtig erlebt wurden, ist das unter Umständen der einzige Weg für ein Kind mit dem Konflikt und der Überforderung klarzukommen. Nicht zu fühlen ist dann besser als unerträgliches zu fühlen.
Es ist bisweilen schmerzlicher Erkenntnisprozess seinen emotionalen Reichtum wiederzuentdecken: zu merken, welche Gefühle nicht sein durften und zu erkennen, dass alles stimmte, was man wahrgenommen hat.
Doch der Wiederbelebungsprozess lohnt sich. Denn er macht uns wieder zu dem Menschen, als der wir gedacht sind. Und er macht uns zu den Menschen, an denen es in der Welt mangelt: Mitfühlende Wesen, die sich selbst genauso wahrnehmen wie den nächsten. Menschen, die erkennen, dass Fühlen vor Denken kommt. Menschen, die ihrer Intuition trauen können. Menschen, die ihren Kindern ein gutes emotionales Fundament mitgeben können.
Mit solchen Menschen kommen wir einer besseren Welt ein Stückchen näher.