Alles fühlen: Wenn du nichts fühlst

Alles fühlen: Wenn du nichts fühlst

Ihr Lieben,

ich habe vor einiger Zeit eine Textreihe gestartet mit dem Titel „Alles fühlen“. Gerade hochsensible Menschen fühlen ja oft sehr viel, zu viel, so viel, dass sie selbst darunter leiden. So zumindest kommt es ihnen vor. In Wahrheit aber leiden sie gar nicht an den Gefühlen, sondern an der Erfahrung, die an den Gefühlen klebt. Gefühle an sich sind überhaupt nicht bedrohlich. Sie kommen, sind eine Weile da und dann klingen sie wieder aus, so wie die Wellen des Ozeans. (Da käme ja auch niemand auf die Idee zu sagen: „Da, die Welle ist schön, aber die daneben, die ist hässlich, die soll weg sein.“) Was sich bedrohlich anfühlt, ist die Geschichte, die an einem Gefühl hängt. Und durch die Geschichte veranlasst, versuchen wir, uns gegen die Gefühle zu wehren und sie uns vom Leib zu halten. Doch genau das ist die Ursache für Leiden. Der ständige Kampf gegen aufkommende Gefühle.

Bei manchen Menschen sind es bestimmte Gefühle, die abgewehrt werden. Doch es gibt auch Menschen, die grundsätzlich das Fühlen auf Eis gelegt haben. Ich selbst war in meiner Jugend in einem gewissen Erstarrungszustand, in dem ich zwar noch funktionieren konnte, die feine Schwingungsfähigkeit eber eingefroren war. Das hat bisweilen zu Verhaltensweisen geführt, über die ich im Nachhinein selber manchmal den Kopf geschüttelt und mich gefragt habe, wieso ich denn damals so reagiert habe.

Grund war, dass ich die Komplexität der Situation gefühlsmäßig nicht an mich heran gelassen habe (was nur über das Gefühl geht) und von daher in manchen Situationen auch das Einfühlungsvermögen nicht mit an Bord war.

Fehlende Empathie

Sehr viele Menschen nehmen wahr, dass wir gesellschaftlich mit wachsender Empathielosigkeit zu tun haben. Gleichzeitig breiten sich depressive Zustände immer mehr aus. Unsere Gesellschaft krankt an Gefühllosigkeit. Empathie ist unser natürlicher Zustand und erst wenn die Gefühle abtrainiert, unterdrückt oder ignoriert werden, dann entsteht Empathielosigkeit. Es ist die Entfremdung von sich selbst und seinem Nächsten. Es verschwindet das Gefühl, richtig lebendig zu sein.

Die Fähigkeit umfänglich fühlen zu können ist keine nette Garnitur des Lebens, sondern sie ist entscheidend dafür, wie vollständig, verbunden und genährt du dich fühlst. Der Zugang zum Einssein führt durch die Gefühle. Denn Gefühle sind das Tor der Gegenwärtigkeit.

Was ist nun, wenn du nichts fühlst? Oder nur bestimmte Gefühle hast?

Es ist ein mutiger Schritt, sich dies einzugestehen. Wenn du merkst, dass da irgendetwas fehlt, was vielleicht jemand von dir erwartet, oder wenn du wahrnimmst, dass die meisten Menschen viel mehr emotionale Reaktionen zeigen als du, dann ist das Eingestehen, dass du momentan nichts oder nicht viel fühlst, schon der erste sehr wichtige Schritt.

Herzlichen Glückwunsch! Hier kann die Entdeckungsreise beginnen.

Und wenn du meinst, zu viel zu fühlen?

Dieses typisch hochsensible „Leiden“ ist für mich eher der Ausdruck einer Fähigkeit, nämlich der, sehr viel wahrnehmen zu können (was megatoll ist). Weshalb es aber eher als Last empfunden wird, liegt daran, dass die Wahrnehmungen häufig in Kombination mit alten Belastungen auftritt. Sobald diese weg sind, bleibt nur noch das reiche Fühlen übrig.

Ich empfinde es wie eine gesellschaftliche Aufgabe, dass wir uns auf eine gute Weise mit unserer Fähigkeit des Fühlens befassen. Nicht, indem wir darüber nachdenken, sondern, indem wir es tun. Fühlen ohne etwas wegmachen zu wollen. Auch schmerzhafte Gefühle durchfühlen, bis sie wieder abklingen. Und wenn man merkt, dass es für einen alleine zu viel ist, sich Unterstützung suchen. (Gruppen, Einzelunterstützung, Aufstellungsarbeit, emotionale Körperarbeit.)

Dadurch kommt in dir etwas in Ordnung. Dadurch werden innere Konflikte befriedet. Und alles, was in dir friedlich wird, verändert auch deine Außenwirkung.

 

Bild: Gino Crescoli

No Comments

Kommentar schreiben

Die eingegebene E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.