
Was passiert mit deinem Leben, wenn deine Eltern alt werden?
Irgendwann kommt der Punkt wo man realisiert, dass sich das Verhältnis zu den Eltern verändert. Sie beginnen mehr um sich zu kreisen, fragen nicht mehr so oft nach, wie es einem geht, scheinen weniger interessiert. Die körperlichen Gebrechen nehmen zu und die Kräfte werden weniger. Nach und nach verschiebt sich etwas in der Beziehung, so dass man sich fragt: Wer ist denn eigentlich die Mutter und wer das (erwachsene) Kind?
Diese Lebensphase ist in vielerlei Hinsicht herausfordernd und verdient, sehr bewusst erlebt und aktiv gestaltet zu werden. Ich beobachte, wie Menschen sich über alle Maßen verausgaben, wenn sie unbewusst in die Situation hineinmäandern. Deshalb möchte ich zu der bewussten Auseinandersetzung einladen. Damit wir lernen, Wege zu gestalten, die allen Beteiligten gerecht werden.
Das Eltern-Kind-Verhältnis kehrt sich um
Du gerätst plötzlich in die Rolle der Fürsorgenden, des Beraters, des Stärkeren, der Gebenden. Weil die Mutter oder der Vater schwächer, ängstlicher, kränker, eingeschränkter wird. Du machst Dinge, die deine Eltern früher für dich gemacht haben: Du sorgst, kümmerst dich, chauffierst, kaufst ein, berätst, hörst dir Sorgen an, ermutigst, hilfst beim Laufen oder Knöpfe schließen und wechselst vielleicht irgendwann auch die Windeln. Es ist ein seltsames Gefühl, wie sehr diese Handlungen dem gleichen, was man bei den eigenen Kindern getan hat und was unsere Eltern für uns getan haben.
Du wirst mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert
Zu sehen wie die eigenen Eltern abbauen, kann erst einmal starken Widerstand auslösen. Dieser drückt sich mitunter als Wut oder Flucht aus, beides Formen der Abwehr. Am Anfang will man das einfach nicht wahrhaben. Die ersten Anzeichen versucht man vielleicht noch auszublenden. Der Gedanke, dass die Menschen, die immer da waren, irgendwann nicht mehr da sein werden, löst etwas aus – egal, wie gut oder schlecht die Beziehung zu den Eltern ist. Gleichzeitig bekommst du auch deine eigene Endlichkeit vor Augen gehalten. Das Thema Tod lässt sich nicht mehr so leicht wegschieben, es bekommt Bedeutung und Gewicht.
Deine Rolle verändert sich
Durch die Hilfsbedürftigkeit der eigenen Eltern kann es sein, dass du in einer Rolle landest, die du dir nicht ausgesucht hast. Du bist plötzlich intensiv mit Betreuung, Pflege und organisatorischen Aufgaben beschäftigt, musst vielleicht Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Und vielleicht hast du nicht bewusst Ja dazu gesagt, sondern bist da so nach und nach hineingerutscht. Weil es nötig war. Weil du als empathischer Mensch den Bedarf mitbekommen hast. Am Anfang geht es noch, doch dann wird es immer mehr, immer mehr und das, wo du doch noch einen Beruf und ein eigenes Leben hast. Du brauchst Unterstützung.
Familienkonflikte tauchen auf
Die neue Rolle kann viele Konflikte mit sich bringen. Ein Klassiker ist, dass einer in der Familie stets zur Stelle ist und den Großteil der Aufgaben schultert, während andere sich zurückhalten oder sogar ganz verweigern (natürlich mit guten Gründen). Traditionell sind es immer noch meistens die Töchter, die den größeren Versorgungsteil schultern, während sich viele Söhne eher zurückhalten. Am Anfang scheint das in Ordnung zu sein, doch wenn Betreuung, Organisation und Pflegeaufgaben mehr werden, dann entsteht ein kollossales Missverhältnis. Dieses entlädt sich oft erst dann, wenn es ums Erbe geht. Dann soll nachträglich die viele Arbeit gewürdigt werden, dann soll die Gerechtigkeit wieder hergestellt werden. Ich kenne einige Fälle, wo diese Dynamik zu echtem Zerwürfnis unter den Geschwistern geführt hat. Da braucht es eine frühere Regulation.
Ganz viel Neues lernen
Die Begleitung der letzten Lebensphase erfordert, dass wir uns mit ganz neuen Dingen befassen müssen. Wie organisiert man das Leben eines Menschen, der immer weniger selber kann? Wo findet man passende Unterstützung? Wer zahlt was? Wer übernimmt organisatorische und verwaltende Dinge (Finanzen, Haus/Wohnung, Versicherungen, Rentenangelegenheiten etc)? Wie kann soziale Teilhabe organisiert werden, damit ein alter Mensch nicht nur vor dem Fernseher geparkt wird?
Und schließlich: Wie soll die letzte Lebensphase begleitet werden, wenn klar ist, dass es nicht mehr um Heilung und Therapie geht? Wer unterstützt einen, den richtigen Weg zu finden in ein würdevolles Lebensende, ggf. auch darin sich gegen ungewünschte medizinische Maßnahmen zu wehren?
Bewusste Gestaltung
Ich glaube, es wird deutlich, wie anspruchsvoll diese Zeit ist. Wenn man jung ist, macht man sich nicht so viele Gedanken darum. Das ist völlig in Ordnung. Allerdings gibt es einen Punkt, wo es aus meiner Sicht dringend notwendig ist, die Dinge an sich ran zu lassen und sich bewusst damit auseinander zu setze:
Was ist der Wunsch des Menschen selber für seine Alterszeit? Hat er sich darüber überhaupt schon Gedanken gemacht oder sollte seine Haltung dazu erst einmal erforscht werden?
Was sind deine eigenen Wünsche für deine Mutter oder deinen Vater? Inwieweit möchtest und kannst du auf ihre Wünsche eingehen? Und wie passt das zu deinem eigenen Leben?
Wenn wir einfach so in diese Lebensphase hineingeraten, entweder durch ein plötzliches Gesundheitsereignis oder – fast unmerklich – durch einen schleichenden Prozess wachsender Hilfsbedürftigkeit, dann geraten wir leicht in eine Situation von Überforderung. Das eigene Leben ist ja schon voll genug, und dann kommt ein komplett zweites Leben hinzu (oder auch zwei).
Es braucht die bewusste Auseinandersetzung:
- Mit der neuen Situation.
- Mit der Veränderung in der Eltern-Kind-Beziehung.
- Mit dem Maß an Verantwortung, das man hat bzw zu tragen bereit ist.
- Mit dem familiären Kontext (Geschwister) und dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit.
- Mit der Balance zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge.
- Mit der Fähigkeit sich abzugrenzen.
- Mit der Geschichte, die man mit seinen Eltern hat, die ja auch Schatten beherbergt.
- Mit der Wesensveränderung der alten Menschen…
Das Thema ist komplex. Herausfordernd. Anspruchsvoll. Und es wird in unseren gesellschaftlichen Strukturen bei weitem nicht so aufmerksam bedacht wie das Thema der Elternschaft. Dabei ist es genauso wichtig.
Wenn du in dieser Lebensphase bist und den Wunsch verspürst, dich zu sortieren, bin ich gerne für dich da.
Es kann dabei sowohl um ein Sortieren der eigenen Gefühle und Wahrnehmungen gehen, als auch um ein ganz praktisches Sortieren der Lebensumstände. Beides ist wichtig.
Sich in dieser Situation Unterstützung für die eigene Auseinandersetzung zu holen, ist ein Akt guter Selbstfürsorge. Herzlich Willkommen.
Foto: Gerd Altmann