Warum sich Hochsensible sich oft so schwer abgrenzen können
Überall liest und hört man es: „Da musst du dich abgrenzen.“ Und gleichzeitig funktioniert es für hochsensible Menschen oft nicht. Genau mit der Abgrenzung haben viele ihre Not. Ich glaube, dass es wichtig ist zu verstehen, warum uns Abgrenzung so schwer fällt und dass das Bewusstsein dafür hilft, nach und nach umzulernen und so das eigene Verhaltssprektrum zu erweitern.
Du lebst nach deinen Bedürfnissen
In Wahrheit folgst du in deinem Verhalten immer deinen Bedürfnissen. Selbst dann, wenn du dich – wie sehr viele hochsensible Menschen – unglaublich stark an die Wünsche anderer anpasst oder dich so verhältst, dass du in deinem Umfeld nicht aneckst. Vielleicht steckst du vordergründig mit deinen Wünschen zurück, richtest dich bei der Terminfindung immer nach der Freundin oder bist superflexibel, wenn es um gemeinsame Aktivitäten oder Arbeitsplanung geht. Man könnte meinen, du würdest immer nur zurückstecken und in gewisser Weise tust du das auch. Du folgst deinen oberflächlicheren Bedürfnissen nicht, wenn sie von den Wünschen deines Gegenübers abweichen. Doch gleichzeitig folgst du einem anderen (eigenen) Bedürfnis.
Unsere tiefsten Bedürfnisse steuern unser Verhalten
Unser Verhalten hat immer einen guten Grund. Und dieser entspringt einem Bedürfnis. Was könnte nun dahinter stecken, wenn du dich über ein für dich bekömmliches Maß unterordnest? Es lohnt sich, dieser Frage einmal innerlich nachzuspüren. Die Antwort ist nicht einfach nur „weil ich mich nicht abgrenzen kann“ oder „weil ich keine eigene Meinung habe“. Das dahinter liegende Bedürfnis ist – gerade bei hochsensiblen Menschen – meistens der Wunsch nach Harmonie und Verbundenheit.
Wenn wir einer Idee zustimmen, fördert dies das Gefühl von „wir sind einig“ oder „wir eins“. Dieses Bedürfnis nach Verbundenheit ist zutiefst menschlich. Es ist das erste, was passiert, wenn ein Kind auf die Welt kommt: Es sucht den intensiven Kontakt zur Mutter (Bonding) und installiert eine feste innere Verbindung zu ihr. Dies ist das, was in der allerersten Lebensstunde geschieht. Das Bedürfnis nach Verbindung ist also ein Überlebensprogramm.
Verbindung und Autonomie
Verbindung schafft also Sicherheit. Wenn ich als Kind genau weiß, dass ein Mensch für mich da ist, dann kann ich von dieser sicheren Basis aus losgehen und die Welt erkunden. Oder anders ausgedrückt: Ich darf meinen Erkundungsbedürfnissen folgen und bin trotzdem geliebt und verbunden. Wir machen damit die Erfahrung, dass unser Forschungsbedürfnis sein darf und die Verbindung bestehen bleibt.
Wenn wir hier aber andere Erfahrungen gemacht haben, wenn unser Entfaltungsdrang damals als „Stören“ empfunden wurde oder wenn die Eltern so gestresst waren, dass sie ein „einfaches“ Kind brauchten, dann muss sich im inneren System des Kindes etwas entscheiden: Wähle ich die Autonomie oder passe ich mich an?
Die Fähigkeit der Hochsensiblen
Ein Mensch mit ausgeprägtem Feinempfinden wird die Erwartungen und Bedürfnisse der Eltern auf einer unbewussten Ebene sehr früh wahrnehmen und darauf reagieren. Ja vielleicht bildet er sogar diese feinen Antennen erst aus, weil es seinem Überleben dient. Die Antennen sind darauf ausgerichtet, sehr frühzeitig zu erspüren, was die wichtigen Bezugspersonen brauchen und sich daran auszurichten. Wenn die Eltern den Bedürfnissen des Kindes mit Ablehnung oder Stress begegnet sind, muss das Kind sich zwischen Autonomie oder Anpassung entscheiden. Die „Entscheidung“ für die Anpassung wird unbewusst getroffen, schließlich geht es ums Überleben. Verbindung bedeutet Sicherheit und steht damit an erster Stelle. Also wird ein Programm gelernt, das sich dem Erwachsenen dann so darstellen kann:
- Nur wenn ich mich anpasse/unterordne, gehöre ich dazu.
- Meine Wünsche werden nie gehört.
- Die anderen sind wichtiger als ich.
- Niemand sieht mich.
- Ich zähle nicht.
- Wenn ich mit meinen Sachen komme, gibt es Streit.
- Wenn ich sage, was ich will, werde ich abgelehnt.
- Ich weiß gar nicht, was ich will.
- Ich zeige mich nicht.
Kennst du etwas davon?
Die frühe Erfahrung, dass die eigenen Bedürfnisse irgendeine Form der Ablehnung zur Folge hatten, ist eine starke Prägung, die uns erhalten bleibt, wenn wir sie nicht erkennen und ihr bewusst etwas entgegensetzen. Wenn ein Mensch sich also über die Maßen anpasst, dann folgt er in Wirklichkeit einem sehr tiefen Bedürfnis, dem nach Sicherheit.
Als Erwachsener neu lernen
Dieses Bedürfnis zu verstehen und wertschätzend anzuerkennen, warum es sich ausgebildet hat, ist der erste Schritt, um es zu wandeln. Denn als Erwachsene brauchen wir es in dieser kindlichen Form nicht mehr. Wir sind als Erwachsene in der Lage für uns zu sorgen und unser Überleben zu sichern, auch wenn wir abgelehnt werden sollten. Wir können uns andere Menschen suchen. Wir können uns artikulieren. Wir können zur Not alleine klarkommen.
Das, was sich uns als mangelndes Abgrenzungsvermögen oder zu schwache Ausprägung eigener Wünsche präsentiert, ist also nur die Folge von einem früh gelernten und im Unterbewussten abgespeicherten Überlebensprogramm. Als erwachsener Mensch – gerade in der heutigen Zeit mit den vielen großartigen Methoden – haben wir die Möglichkeit, diese alten Muster nach und nach umzulernen,
- weil wir mehr Erfüllung im Leben anstreben,
- weil wir unsere anderen Wünsche verwirklichen möchten,
- weil wir uns nach mehr Lebendigkeit sehnen,
- weil wir unser Beziehungsleben freier gestalten möchten
- weil wir uns aus Abhängigkeiten lösen möchten
Ich setze in meiner Arbeit immer auf zwei Faktoren: Bewusstes begreifen und emotionales Abholen. Beides ist wichtig, das Verstehen alleine reicht in der Regel nicht aus, auch wenn es der wichtige erste Schritt ist. Es ist sehr befreiend, wenn wir spüren, wie ein altes Muster seine einengende Wirkung verliert. Dann gewinnt das Leben an Lebendigkeit und du wirst zum Gestalter oder zur Gestalterin deines Lebens.
Welch ein Geschenk!
Barbara Grebe
Foto: Engin_Akyurt