Vom Umgang mit Unvollkommenheit

Bild und Text über Unvollkommenheit von karindrawings

Vom Umgang mit Unvollkommenheit

Diese schöne Zeichnung von karindrawings kommt mal wieder genau zur richtigen Zeit. Ein sehr unvollkommenes Jahr neigt sich dem Ende zu und ich möchte dieses Thema gerne aufgreifen.

Ich beobachte schon länger, dass wir in unserem kollektiven Denken in eine Richtung steuern, die man einmal hinterfragen sollte. Es hat sich in unserer westlichen Gesellschaft so etwas wie ein Perfektionsanspruch breit gemacht, der uns zunehmend verlernen lässt, mit dem Unvollkommenen klarzukommen. Mit dem Unvollkommenen im Leben, bei den Mitmenschen und bei sich selbst.

Als Beispiel ein paar Glaubensmuster:

  • Ich hätte es besser machen können, dann wäre das nicht passiert.
  • Wenn dies und jenes in meiner Kindheit anders gewesen wäre, hätte ich mich besser entwickeln können.
  • Wenn ich mich genug bemühe, dann erreiche ich irgendwann Harmonie.
  • Der Lehrer/die Eltern/der Parter/die Chefin müssten sich nur so und so verhalten, dann wäre alles gut.
  • Wenn ich mich ausreichend absichere, passiert mir nichts.

Was all diesen Glaubenssätzen anhaftet, ist das Verneinen der Realität so wie sie ist oder war sowie das Denken, es hätte besser oder anders sein sollen. Es hat etwas von Kontrollwahn, dem wir als Gesellschaft mehr und mehr verfallen und der bisweilen absurde Ausmaße annimmt:

Da kann ein Bio-Leistungskurs nicht mehr wie früher die Klassenfahrt an einen kleinen Bach unternehmen, um dort Wasserproben zu untersuchen, weil es keinen Rettungsschwimmer gibt. Für einen Bach. Mit fast erwachsenen Menschen. Das hat nichts mit gesundem Menschenverstand oder Risikoabwägung zu tun, sondern ist ein Auswuchs des Bedürfnisses, maximal abgesichert zu sein.

Oder die zwanghafte Suche, für jedes Ereignis einen Schuldigen auszumachen, anstatt zu akzeptieren, dass manche Dinge einfach passieren.

Bei hochsensiblen Menschen erlebe ich ebenfalls ein starkes Bedürfnis sich abzusichern und zwar im zwischenmenschlichen Bereich. Wenn hier Störungen auftreten, bekommen diese auch mitunter eine als bedrohlich empfundene Dimension, anstatt zu sehen, dass da gerade zwei lebendige Wesen mit unterschiedlichen Nervensystemen aufeinander reagieren.

 

Unvollkommenheit ist menschlich

Überall in der Welt gibt es Unvollkommenheit. Sie ist fester Bestandteil des Lebens und ganz besonders dort, wo Menschen interagieren. Es sollte nicht mehr darum gehen, die Unvollkommenheit auszumerzen und einem Perfektionsanspruch hinterherzulaufen, sondern wir dürfen einen gesunden Umgang mit der Unvollkommenheit finden.

Was es aus meiner Sicht dringend braucht, ist eine gute Kultur der Unzulänglichkeiten: der eigenen, mit der anderer Menschen und mit den Situationen, die das Leben uns vor die Füße wirft.

Dieses Jahr hat sich mir in unbeschreiblicher Unvollkommenheit gezeigt. Im Kleinen und im Großen gab es viele Katastrophen, Stress-Szenarien und Krisenlagen, wie ich sie in dieser Verdichtung noch nie erlebt habe. Den Gedanken, dass ich irgendeine Kontrolle hätte, habe ich unterwegs fallen gelassen. Kontrolle ist ein Mythos – geboren in einer Wohlstandsgesellschaft.

 

Kontrolle über seine Mitmenschen zu haben, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Was wir aber tun können und auch tun sollten ist, unsere zwischenmenschliche Kompetenz immer weiter ausbauen und verfeinern. Wenn wir uns mit all unseren Besonderheiten und Macken sehr gut kennen, dann können wir leichter unterscheiden, welche Ursache in mir selbst liegt, welche Reiz-Reaktionsmuster anspringen und welche Themen vom anderen verursacht werden, wo ich vielleicht gerade nur Projektionsfläche bin.

Wenn wir uns selbst in unserem inneren Reichtum und mit unseren Gaben und unserer Liebesfähigkeit kennen, dann können wir mit attraktiven Beziehungsangeboten auf andere zugehen. (Ob der andere Mensch, die Perlen, die wir zu verschenken haben, erkennen oder annehmen kann, ist dann ein Thema für sich. Manche Menschen sind so in ihrer Schmerzdynamik gefangen, dass sie nicht erkennen können, wenn ihnen Liebe begegnet. Oder es zumindest in dem Moment nicht erkennen können.)

Das bedeutet aber nicht, dass das Angebot falsch war. Es bedeutet nur, dass der andere gerade nicht auf das Angebot eingehen kann oder will.

Lässt du dich verunsichern, wenn dir so etwas passiert? Wenn die Schätze, die du anbietest, nicht gesehen werden?

Vermutlich können wir alle hier noch viel resilienter werden. Wir können üben, es nicht persönlich zu nehmen, was von der anderen Person zurückkommt oder nicht zurückkommt.

Wir können üben, uns deutlicher zu zeigen mit dem, was wir in die Welt bringen möchten. Jeder, wirklich JEDER Mensch hat etwas ganz eigenes zu geben.

Wir können üben, uns wohlwollend zu hinterfragen und auf Wahrhaftigkeit zu überprüfen. Gerade hochsensible Menschen haben die Neigung, andere Menschen nachsichtiger zu beurteilen als sich selbst. Ja, auch jeder von uns ist unvollkommen und darf es sein. Trotz dieser Unvollkommenheit hast du ein gottgegebenes Daseinsrecht.

Dass du da bist, ist der Beweis!

Wenn du die Unvollkommenheit in dir und anderen umarmen kannst, leistest du einen wertvollen Beitrag zum Frieden.

 

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