Lernblockaden und Prokrastination bei Hochbegabung

Glühbirne vor Tafel, Hochbegabung und Lernblockaden

Lernblockaden und Prokrastination bei Hochbegabung

Immer öfter kommen hochbegabte junge Menschen zu mir, die sich wegen einer anstehenden Prüfung mit ihrem Lernverhalten – oder besser: mit ihrem Lernausweichverhalten (Prokrastination) – auseinandersetzen müssen. Der Prüfungstermin ist schon bedrohlich nah gerückt und dennoch gelingt es ihnen nicht, sich mit dem Lernstoff zu befassen. Natürlich ist diesen Menschen klar, dass ihr Verhalten nicht förderlich ist, wenn man eine Prüfung bestehen möchte. Die Folge ist eine massive Selbstabwertung und Selbstverurteilung, weil sie es einfach nicht schaffen zu lernen.

Wenn ich diesen Menschen zuhöre, wie sie über sich selbst sprechen, dann höre ich die Stimmen von Erziehenden, Lehrern, Eltern, die versuchen das Kind zu etwas zu bringen, das es nicht möchte. Ich höre viel Druck und viel Not.

So war es auch bei dem jungen Mann, der kürzlich bei mir war. Sein ganzes Verhalten und seine Art über sich zu sprechen, erzeugte Druck. Und gleichzeitig verhinderte genau dieser Druck, dass er irgendetwas zustande brachte, das mit dem Lernstoff zu tun hatte. Um der unangenehmen Situation aus dem Weg zu gehen, räume er an Stellen auf, die ihn bis dato nicht interessiert hatte und putzte seine Wohnung bis in den hintersten Winkel.

Unter Druck arbeiten funktioniert für viele Hochsensible nicht

Es gibt tatsächlich Menschen, die unter Druck zu Höchstform auflaufen, ja, die sich sogar erst unter Druck in Bewegung setzen. Scanner – die Multiinteressierten aus dem Hoch-X-Spektrum – gehören oft dazu. Für die meisten Hochsensiblen aber ist Druck kein hilfreiches Mittel. Sie brauchen eher Zeit und Zeitpuffer.

Bei dem jungen Mann war es sehr deutlich, dass er keinen anderen Umgang mit dem Lernen kannte, als Druck aufzubauen. Er hatte seine ganze Schulzeit über die Erfahrung gemacht, dass er unter Druck etwas machen musste, was ihm eigentlich nicht entsprach und ihn auch nicht interessierte. Dementsprechend stark rebellierte sein System. Die anstehende Prüfung war die klassische Wiederholung: Er sollte etwas lernen, was ihn nicht interessierte und hatte in seinem Repertoire lediglich das eine Werkzeug seiner Lehrer: Druck aufbauen. Er hatte nicht gelernt, freudvoll zu lernen.

Hochbegabte haben es oft nicht gelernt zu lernen

Viele intellektuell Hochbegabte, wie dieser junge Mann, haben eine Leidensgeschichte in Bezug auf das Lernen hinter sich. Sie haben es einfach nicht auf eine Art gelernt, die ihnen entsprochen hätte. Viele haben sich mit Cleverness durch die Schullaufbahn navigiert und dabei das Gefühl entwickelt, sich durchzumogeln. Auf dem Weg hat ihnen niemand gezeigt, wie man sich auf gute und typengerechte Art mit Stoff beschäftigen kann, dass es Spaß macht. Im Studium reicht Cleverness alleine dann häufig nicht mehr, so dass sie hart mit der Tatsache konfrontiert werden, dass sie nicht gelernt haben, wie Lernen für sie funktionieren kann.

Der Talentschatten prägt oft die Lerngeschichte von Hochbegabten

Wer über eine ausgeprägte Begabung verfügt, der hat häufig an einer anderen Stelle ein auch recht ausgeprägtes Defizit, das in direktem Zusammenhang mit dem Talent steht. Ich nenne es den Talentschatten. Ein Beispiel:

Samuel ist in der Lage extrem gut räumlich zu wahrzunehmen. 2-dimensionale Formen kann er vor seinem inneren Auge in 3D von allen Seiten betrachten. Dies ist eine großartige Fähigkeit für alles, was mit räumlicher Vorstellung zu tun hat. Auf diesem Gebiet ist er blitzschnell. Gleichzeitig gilt Samuel als Legastheniker. Warum? Für ihn sind die Buchstaben b, p, d gleich. Es ist die gleiche Form von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet. Sein Gehirn vollzieht diesen räumliche Perspektivwechsel so schnell, dass er Mühe hat, die Buchstaben auseinander zu halten, was ihm das Lesen und Schreiben sehr erschwert.

Eine weitere Einschränkung von Hochbegabten ergibt sich aus dem erhöhten Denktempo. Es leuchtet ihnen einfach nicht ein, warum sie sich hinsetzen und mühsam-langsam Hausaufgaben bearbeiten sollen, wenn sie den Stoff längst durch einfaches Zuhören verinnerlicht und durchdacht haben. Warum sollen sie etwas aufschreiben, was sie längst abgespeichert haben? Warum sollen sie überhaupt etwas tun, wenn kein erkennbarer Sinn dahintersteckt?

Ich beobachte bei vielen Blitzdenkern derartige „Einschränkungen“, die letztlich nur deshalb als Einschränkung empfunden werden, weil sie von der Norm abweichen und eine Negativbewertung erfahren. Das Gemeinsame an allen Hochbegabten mit diesem Thema ist, dass sie sich dafür verurteilen. Ein Satz, der durchweg auftaucht ist: „Ich bin zu blöd…“

Hier hat das Schulsystem versagt

Immer wieder sitze ich fassungslos vor einem genial-talentierten Menschen, der solch ein Urteil über sich fällt. Welches Armutszeugnis für unsere schulische Erziehung, die den Fokus streng auf den Mangel gerichtet hält anstatt mit den Talenten zu arbeiten. Der Makel dessen, was sie nicht können, hat sich tief in die Psyche dieser Menschen eingegraben und prägt einen großen Teil ihres Selbstbildes.

Wer als Hochbegabter zu einem solchen Schluss kommt, bei dem ist etwas richtig ungünstig gelaufen. Sein natürlicher Drang nach interessanter Stimulation wurde nicht beantwortet. Seine Versuche, den Schulalltag für sich passend zu machen, sanktioniert. Sein „aus dem Rahmen fallen“ als Unwilligkeit abgestempelt.

Die größte Fehlannahme ist, dass ein überdurchschnittlich begabter Mensch keine Förderung braucht, dass er alleine klar kommt. Das stimmt nicht. Wer in der Schule traumatische Lernerfahrungen gemacht hat, kommt spätestens im Studium damit in Kontakt, wenn die Anforderungen höher sind und plötzlich Lernskills gefragt sind.

Neue Erfahrungen machen

Im Coaching sorgen wir für eine Positiv-Erfahrung. Neben dem Bewusstmachen der Denkmuster erlebt der Klient/die Klientin den Weg hin zur Prüfung neu, anders, positiv. Wir kreieren ein fiktives Szenario, wie es bist zur Prüfung optimal läuft.

Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob die Situation echt oder gestellt ist. Wenn der Mensch die Szene wirklich erlebt, also fühlt, dann hält das Gehirn sie für echt. Mit dieser Positiverfahrung hat der Mensch eine neue Referenzerfahrung, auf die er in Zukunft zurückgreifen kann. Häufig die erste positive Erfahrung in einer langen Leidensgeschichte.

Zusätzlich finden wir gemeinsam heraus, wie Lernen für diesen Menschen am besten funktioniert. Im Gegensatz zur Schule dürfen die Lösungen sehr kreativ und unkonventionell sein.

Ich hoffe sehr, dass das Wissen um gehirn- und typengerechtes Lernen sich endlich durchsetzt. Bis es so weit ist, muss jeder selbst seinen Weg finden.

Meine Einladung an dich: Mach eine neue Erfahrung! Das kann der Gamechanger sein.

 

 

 

Foto: Mark Mags

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