Kann man Hochsensibilität heilen?

weiße Feder

Kann man Hochsensibilität heilen?

Der Wunsch ist so verständlich. Endlich mal nichts mehr hören, riechen, fühlen, denken. Für ein paar Tage einfach mal die ganzen Reize ausschalten, um zur Ruhe zu kommen, sich zu erholen. Den Zustand von Übererregung wieder loswerden. Sich wieder wohlfühlen im eigenen Körper. Welcher hochsensible Mensch hat diesen Wunsch nicht gelegentlich!

Oft werde ich nach der Therapierbarkeit von Hochsensibilität gefragt. Als handle es sich bei dieser Veranlagung um einen lästigen Störfaktor, der einfach nur beseitigt werden soll, damit man in mehr Ruhe genauso weiterleben kann wie bisher. Ein unbequemes Symptom, das man möglichst schnell loswerden möchte.

Ich glaube, genau darum geht es nicht. Vielmehr möchte uns die Übererregbarkeit aufmerksam machen auf einen Veränderungsbedarf in unserem System und in unserem Leben. Wir sind nicht dazu verdammt, mit dem Leiden, dass durch die Überreizung hervorgerufen wird, dauerhaft durchs Leben zu gehen. Wir sind dazu eingeladen, darauf zu reagieren und daran zu wachsen.

Wenn ich darauf blicke, wie ich früher war und wie ich heute bin, sehe ich die große Bandbreite des Lebens mit hochsensibler Veranlagung. Es gab früher Phasen, wo mich ein wildfremder Mensch auf der Straße durch eine grobe oder unbedachte Bemerkung völlig aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Ich habe „die Welt da draußen“ die meiste Zeit als bedrohlich empfunden, weil selbst ein kleines Ereignis (wie eine genervte Supermarktverkäuferin) mich in emotionale Nöte bringen konnte und ich mich danach erst mühsam wieder stabilisieren musste.

Heute blicke ich auf die Auslöser jener Zeit und wundere mich nur noch, welche Macht diese Ereignisse damals über mich hatten. Mein Lebensgefühl hat sich grundlegend verändert. Immer noch nehme ich sehr viel wahr – in manchen Bereichen sogar noch mehr, was ich als sehr bereichernd erlebe – aber die Störbarkeit ist extrem stark zurück gegangen. Ich fühle mich heute stabil und genieße es, mir selber dabei zuzuschauen, wie ich das, was in mir und um mich herum passiert, verarbeite.

Was braucht es für einen entspannten Umgang mit Reizen?

Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, zwei Bereiche zu trennen, aus denen die Überreizung genährt wird: Reize von außen und Reize von innen.

Hier ein paar Beispiele für Reize von außen:
Gerüche – verschwitzte Menschen in der überfüllten U-Bahn,
Geräusche – gerade jetzt im Herbst wieder schön aktuell: Laubpüster,
Körperempfindungen – zu warm, zu kalt, das Wäscheschildchen kratzt,
optische Eindrücke – zu viele hässliche Bauten in der Stadt, Müll auf der Straße, blinkende Schilder.

Diese Reize können wir nur bedingt beeinflussen. (Am ehesten lassen sich die Geschmackserlebnisse noch kontrollieren, weshalb sie in der Liste nicht auftauchen.) In manchen Fällen können wir für uns sorgen, indem wir das Fenster öffnen, um die Temperatur im Raum zu ändern oder das Wäscheschildchen aus der Bluse schneiden. Den Mann mit dem Laubbläser, der vor dem Büro tätig ist, kann man nicht so leicht entfernen. Viele Reize in unserer Umgebung können wir häufig nur ausschalten, indem wir den Ort wechseln. Wichtig ist bei diesen Reizen, die von außen kommen aber, sie mitzubekommen und zu schauen, wo du Einfluss nehmen und so für dich sorgen kannst.

Mehr Einfluss nehmen kannst du auf das, was mit deinen inneren Reizen zu tun hat. Und dies ist auch bei vielen Menschen der Bereich, der den größten Stress auslöst. Bei den Innenreizen handelt es sich darum, wie du Dinge verarbeitest. Welches Thema hat dich kürzlich noch so richtig beschäftigt, dich einfach nicht losgelassen? In den allermeisten Fällen geht es dabei um Interaktion zwischen Menschen. Ein Kollege oder Chef hat etwas gesagt, was etwas in dir ausgelöst hat – oder du hast auf eine Weise reagiert, mit der du nicht zufrieden warst, wo du mutiger, schlagfertiger souveräner hättest sein wollen. Dein Partner hat etwas getan (oder nicht getan) wodurch du an seiner Aufmerksamkeit für dich zweifelst. Diese inneren Prozesse können uns extrem viel Stress bereiten. Weil sie uns beschäftigt halten, obwohl die Situation nicht mehr zu ändern sind. Obwohl der Anlass längst vorüber ist, hadern oder diskutieren wir innerlich, machen uns oder den anderen Vorwürfe und versuchen etwas zu ändern, was längst Vergangenheit ist.

Häufig führen auch äußere Reize zu inneren Reizen. Du sitzt vielleicht im Wartezimmer einer Praxis und dir ist zu warm. Du möchtest das Fenster öffnen, um für dich zu sorgen. Doch bevor du handelst, geht ein innerer Film los: „Dann gucken alle auf mich – wenn den anderen auch zu warm wäre, hätte bestimmt schon jemand das Fenster aufgemacht – ist das nicht egoistisch, wenn sich alle nach meinem Bedürfnis richten müssen – bestimmt ist es für manche dann zu kalt – ach, es geht schon, ich bin wieder so empfindlich, immer muss ich eine Sonderrolle spielen…“  oder so ähnlich.

Der Stress, der aus diesen inneren Abläufen kommt, hat etwas damit zu tun, dass man sich gegen etwas wehrt. In der Regel geht es um ein Gefühl, das man auf keinen Fall fühlen möchte. Es ist der Versuch, etwas anders haben zu wollen, als es gerade ist. Meistens geht es dabei um alte Verletzungen, die durch das Verhalten anderer Menschen getriggert werden. Was du tun kannst, wenn du merkst, dass dein Gedanken-Rechtfertigungs-Verändernwollen-Karussell im Kopf wieder in Gang kommt, ist, dir die Frage zu stellen: Was fühle ich gerade wirklich? Welches Gefühl möchte ich gerade nicht fühlen?

Warum psychische Reifung hilft

Was ich weitergeben möchte, ist die Erkenntnis, dass der innere Stress in dem Maße nachlässt, wie die inneren Themen heilen. Wenn du nicht mehr gegen die Gefühle ankämpfen musst, sondern sie einfach durchlaufen lässt. Ja, es fühlt sich wie eine neue Verletzung an, dabei ist es nur das Echo der Vergangenheit. (Siehe hierzu auch den Artikel „Warum Hochsensible zu wenig fühlen“.) Und wer das alleine nicht gut kann, weil die Emotionen zu schmerzhaft sind, der kann es mit Unterstützung tun. Ich möchte an dieser Stelle keine Patentrezepte geben, wie seelische Heilung am besten funktioniert, da sind die Menschen so unterschiedlich, dass man viele Bücher dazu füllen kann. Ich habe Coaching, Introvision und die Aufstellungsarbeit als extrem hilfreich erlebt, während Psychotherapie bei mir eher oberflächlich gewirkt hat. Andere erleben genau dort ihre großen Durchbrüche. Was du aber immer selber tun musst: Das ehrliche Fühlen (!) aller Emotionen, die da kommen. (Das Denken der Gefühle reicht leider nicht.)

Ich glaube, dass die Hochsensibilität uns an unsere Themen heranführen will. Sie will uns zur seelischen Heilung einladen. Der erlebte Leidensdruck bringt uns dazu, uns mit uns selbst und Schmerzthemen auseinanderzusetzen. Und in dem Maße, wie wir das tun, kann etwas heilen und in Frieden kommen. Du kommst in Frieden mit deinem Naturell, mit dir selbst, mit deinen Beziehungen. Und in dem Maße wie du in Frieden mit dir kommst, bist du in der Lage, die Hochsensibilität als Fähigkeit zu nutzen und in allen Bereichen deines Lebens einzusetzen.

Welch ein Geschenk, wenn du das tust!!

 

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