
Funktionieren als Traumareaktion
Kürzlich durfte ich einem alten Muster in mir auf die Spur kommen: Dem Funktionieren. Da ein Teil meiner Hochbegabung im praktischen Bereich liegt, fällt es erst einmal nicht auf, wenn ich Abläufe sehr gut umsetze. Ich bin gut in praktischen/organisatorischen Dingen, das kenne ich von mir und meine Umgebung ebenfalls. Es fällt mir leicht.
In diesem Fall aber war etwas anders: Es gab in meiner Familie einen gesundheitlichen Krisenfall, bei dem ich als Helferin in erster Reihe stand. Ich konnte mir dabei zusehen, wie ich alles sehr gut, achtsam und abgewogen managte. Von außen besehen würde ich sagen, ich habe das maximal gut gewuppt und betreut, nicht nur die Abläufen, sondern auch die menschliche Begleitung.
Doch spürte ich auch nachdem alles gut wieder ins Lot gekommen war, dass ich in einer extremen Anspannung gefangen blieb, die sich nicht lösen wollte, sondern sich auf andere Situationen übertrug. Ich kam von der Anspannung einfach nicht runter. Dies ist ein typisches Muster, wenn das Nervensystem „aktiviert“ ist, d.h. auf eine alte Traumabelastung reagiert.
Was ist ein aktiviertes Nervensystem?
Unser Nervensystem ist ständig dabei zu checken, ob wir uns in einer sicheren Situation befinden oder nicht. Dies geschieht ohne unser Zutun, völlig autonom. Wenn das Nervensystem zu der Einschätzung kommt, dass alle Umstände sicher sind, können wir entspannt sein, sind kontaktfähig und haben Zugriff auf unsere vielen Fähigkeiten. Kommt das Nervensystem zu der Einschätzung „nicht sicher“, was bei Hochsensiblen sehr oft im Kontakt mit anderen Menschen geschieht, die als nicht sicher eingestuft werden, geraten wir in einen Modus von erhöhter Aktivierung. Unser Nervensystem fährt alle Systeme hoch (bzw runter), um den Körper auf Kampf, Flucht oder Erstarren einzustellen. Dieses Stressprogramm hat meistens nichts mit objektiver Gefahr zu tun, sondern viel mehr mit dem, was dein kindliches Nervensystem als bedrohlich gelernt und abgespeichert hat.
Erstarrung im Handeln
Die Anzeichen für eine Reaktion meines Nervensystems kenne ich inzwischen recht gut. In einer engen Partnerschaft hat man hireichend Gelegenheit, diese Muster zu erforschen 🙂
Wenn mein NS stark aktiviert wird, gehe ich in den Rückzug, verschließe mich. Ein Großteil meiner Kindheit war geprägt von dieser Verschlossenheit. Heute erkenne ich diesen Zustand meist recht schnell bei mir und weiß, was ich dann brauche, um mich langsam wieder zu öffnen.
In dieser aktuellen Krisensituation aber habe ich die Anzeichen erst einmal nicht verstanden, weil ich mich nicht nach innen zurück gezogen habe. Ich war zugewandt und sehr verbunden mit allen beiteiligten Menschen.
Beim Forschen bin ich dann darauf gestoßen, dass es auch eine von Aktivität begleitete Erstarrung gibt.
Eine Erstarrungssituation ist es, ins perfekte Funktionieren zu gehen. Dies trifft meine Situation sehr gut. Alle notwendigen Abläufe laufen perfekt ab, inklusive Einfühlen in den Andren, aber mein Innerstes wird währenddessen auf Eis gelegt. Es ist das völlige Ausblenden der eigenen Bedürfnisse und Empfindungen. Man spürt sich selbst nicht mehr. Und man kommt nicht so leicht aus diesem Zustand heraus, was typisch für eine Erstarrungssituation ist.
Diese Dynamik nehme ich bei vielen hochsensiblen Menschen wahr, deshalb war es mir ein Bedürfnis hier davon zu berichten. Wenn in dir etwas mit dem Thema in Resonanz geht und du für dich weiter forschen möchtest, empfehle ich dir den Podcast Nr. 131 von Verena König: „Erstarren & Funktionieren als Traumafolge“.
Grafik: kalhh, pixabay
M.
Liebe Barbara,
vielen herzlichen Dank für diesen Artikel und das Teilen deines Erlebens. Ich las ihn letzte Woche mit großem Interesse, nicht ahnend, dass er für mich plötzlich akut wichtig werden würde.
Was empfiehlst du denn, wenn man in einer solchen Situation ist, als schützenden Ausgleich für das eigene Nervensystem?
Ich bin gerade in einer ähnlichen Situation. Mein Vater hat einen schweren Schlaganfall erlitten, meine Mutter ist durch Long Covid sehr schwächt, meine Schwester hat massiv Post Covid, also übernahm ich alles, was zu tun war. Am schlimmsten an der ganzen Situation ist, dass im Krankenhaus neben meinem Vater eine Patientin liegt, die mit jedem Ausatmen schreit. Diese Belastung ist der Wahnsinn (für die Pfleger, Besucher und sicher auch für meinen frischoperierten Vater, der sich nicht äußern kann).
Gestern habe ich funktioniert, wie du es beschreibst, und ich muss das auch noch weiter tun. Aber heute wache ich zitternd auf und merke erst jetzt, was uns da gestern geschehen ist. Neben der Sorge um meinen Vater, ob für sein Gehirn, das v.a. jetzt in der Anfangsphase Ruhe braucht, die permanente Schreibelastung eine Beeinträchtigung seines Heilungsprozesses darstellt, möchte ich gerne für mich selbst gut sorgen, damit ich weiter die Kraft habe, für meine Familie gut dazu sein. Dieses Schreien erhöht die massive emotionale Belastung für uns. Ich werde da um eine andere Lösung im Krankenhaus bitten, was sicher Widerstand herausfordern wird.
Die ganze Situation, v.a. aber auch die Sorge im meinen hilflosen Vater sowie die verzweifelte Mutter, ist für mich sehr, sehr kräftezehrend. Ich bin selbst sehr hochsensibel und merke, dass ich mich da auch leicht überfordere.
Hast du da aus deiner Erfahrung heraus einen Rat für mich zur Selbststabilisierung und Stärkung?
Ich wäre dir sehr, sehr dankbar.
Ganz herzliche Grüße
M.
Barbara Grebe
Liebe M.,
mein volles Mitgefühl für dich! Da hast du wirklich gerade eine belastende Gesamtsituation. Gerne sag ich dir ein paar Dinge dazu:
Erst einmal finde ich es wichtig, dass du verstehst, dass du eine Vorprägung in diese Richtung hast und nachsichtig mit dir bist, z.B. wenn du dich selbst überforderst. Das Umlernen ist ein Prozess, der viel Wissen, (evtl. Unterstützung) und Zeit erfordert. Das geht nicht von heute auf morgen.
Die Situation IST fordernd. In solch einer Krise reagiert man nicht kontrolliert oder planmäßig. Das darf man verstehen und sehr nachsichtig mit sich selbst sein.
Um dich selbst so gut es geht wieder in Balance zu bringen, ist es wichtig, dass du dir Auszeiten nimmst, in denen dein Nervensystem etwas zur Ruhe kommen kann. Das kann bedeuten, dass du mal einen Tag nicht ins Krankenhaus fährst (auch wenn innerlich alles sagt: Du musst), sondern dir eine Auszeit gönnst mit Natur oder Sauna oder Badewanne oder leckerem Essen oder im Bett bleiben. Das kann auch bedeuten, dass du anderen eine Absage erteilst, wenn sie etwas von dir wollen. Wenn dein Vater gerade akut ist, dann müssen Mutter und Schwester ggf. zurückstecken, auch wenn du spürst, was sie brauchen würden. Trau ihnen zu, dass sie selber Wege finden.
Alles, was dich deinen Körper zwischendurch spüren lässt, bringt dich wieder mehr zu dir. Also zwischendurch bewusst atmen, Wasser über die Handgelenke laufen lassen, Duschen, dich selbst umarmen oder deine Haut berühren.
Schau, ob du jemanden hast, der dich zwischendurch versorgt. Für mich war in der Situation eine echte Energiequelle, als ich mit einem sehr leckeren Essen bekocht worden bin, nachdem ich völlig ausgelaugt aus der Klinik kam. Das war leibliche, seelische und energetische Nahrung in Einem!
Manchmal hilft es auch, wenn man sich zwischendruch mal ablenkt, zB mit einem kleinen, unaufgeregten Film. Das holt einen aus den Gedankenschleifen. Kein Fernsehmaraton, aber mal eine Sequenz, um mental in ein anderes (neutrales) Setting einzutauchen.
Am Wichtigsten finde ich, dass du schaust, wer gerade wirklich-wirklich akut Hilfe braucht und wer nicht unbedingt (Prioritäten setzen). Die Sache mit der Verlegung in ein anderes Zimmer zB scheint mir eine sehr gute Unterstützung, weil sie für deinen Vater UND für dich Entlastung bringt. Das bringt Ruhe rein.
Für die Sorge um deinen Vater kann ich immer nur sagen: Alles fühlen, was da in dir so los ist. Nimm dir die Momente, wo du mitbekommst, was in dir passiert. Da wird es sehr widersprüchliche Gefühle geben, das ist eigentlich immer so. Die Verarbeitung braucht Raum und ggf. die Möglichkeit, darüber mit einem Menschen zu sprechen, der solche Situationen selber kennt. Das kann entlasten.
Ach ja, ganz banal: Schau, dass du immer genug zu Essen dabei hast. Wenn man sich im Krankenhaus dann nur mal eben Kuchen oder so was in den Mund stopft, ist dein Körper nicht gut versorgt, sondern reagiert evtl. mit Unterzuckern. Also am Besten Nüsse oder Käsewürfel in der Tasche haben.
Wenn sich alles beruhigt, ist man meist innerlich immer noch in Alarmstimmung. Da darf man verstehen, dass das Nervensystem etwas Zeit braucht, bis es versteht, dass die Akutphase vorbei ist. Da ist es gut, wenn man zwischen dem Gefühl (ich muss mich kümmern) und den Fakten (für meinen Vater ist im Krankenhaus gut gesorgt) unterscheiden kann.
Ich wünsche dir ganz viel gute Unterstützung und Entspannung für dein Nervensystem. Die kann manchmal an unerwarteten Stellen auf dich warten 🙂
Alles Gute für dich und deine Familie!!
M.
Liebe Barbara,
ganz vielen lieben herzlichen Dank für deine so hilfreiche Antwort!!
Einiges davon habe ich inzwischen intuitiv schon umgesetzt (ich entdeckte deinen Post gerade jetzt erst, da ich gar nicht so schnell mit einer Antwort von dir gerechnet hatte).
Ich merke, dass es tatsächlich meine Hauptaufgabe ist, mein übererregtes Nervensystem zu schützen, zu regulieren und zu pflegen. Man gerät ja meist nicht völlig relaxt in eine solche Krisensituation. Berufliche Zwänge sowie andere familiäre Belastungsfaktoren im Vorfeld und nun dieser akute Krisenfall on top fordern von mir sehr viel Energie und ich muss wirklich gut aufpassen, in meiner Kraft und gesund zu bleiben.
Dazu helfen mir deine tollen Tipps, Gedanken und Anmerkungen sehr.
Ich werde sie mir jetzt gleich ausdrucken, damit ich sie bei Bedarf schnell greifbar habe und auch vorher immer mal wieder durchlese, um so meine Balance und Stabilität im Blick zu behalten.
Nochmals meinen allerherzlichsten Dank für deine einfühlsame und kompetente Unterstützung!! 💗
Alles Liebe für dich
M.
Barbara Grebe
Schön, dass du ein gesundes Gespür hast! Viel Erfolg beim Ausbalancieren.
Barbara
M.
Herzlichen Dank!
M.