Warum eine schlechte Kindheit keine Ausrede für dein heutiges Leben ist

Erwachsener und Kind gehen Hand in Hand

Warum eine schlechte Kindheit keine Ausrede für dein heutiges Leben ist

Denkfehler glückliche Kindheit

Heute möchte ich mich einem Thema widmen, das mir im Coaching ständig begegnet, dem Thema „Glückliche Kindheit“. Die meisten Menschen, die zu mir kommen – in der Regel sind es hochsensible/hochsensitive Menschen, wissen ganz genau, was sie in ihrer Kindheit gebraucht hätten, um zu einem reiferen, glücklicheren, erwachseneren, tatkräftigeren, selbstsichereren oder erfüllteren Menschen zu werden. Kurz: Zu dem Menschen, der sie im Kern eigentlich sind.

Ich finde das einen spannenden Gedanken. Denn wenn er stimmt, dann bedeutet das ja, dass das Leben sich vertan hat. Dass es einem die falschen Eltern zugeteilt hat. Oder, dass man eine Wahl gehabt hätte. Hat man aber als Kind nicht. Man hatte genau diese Eltern (oder vielleicht auch gerade keine Eltern) und diese Lebensumstände, die einen auf bestimmte Weise geprägt haben.

Was richtig ist: Es hat Spuren hinterlassen. Es hat dich zu dem Menschen gemacht, der du heute bist. Vielleicht ein unglücklicher, unsicherer oder schwacher Mensch. Aber – ist das falsch?

Es gibt keine idealen Umstände

Das Bemerkenswerte an dem Gedanken der glücklichen Kindheit ist: Ich kenne fast keine Menschen, die wirklich so etwas wie eine glückliche Kindheit gehabt haben. So gut wie kein Kind ist ideal bestätigt oder ausreichend geliebt worden und hatte Umstände, die ihm eine freie Entwicklung ermöglicht hätten.

Und obwohl all diese Menschen ganz offensichtlich nicht die idealen Umstände hatten, wissen sie ganz genau, was sie eigentlich gebraucht hätten und was dann aus ihnen geworden wäre. Eine Frau, die von ihrer Mutter fast nur Kritik und Abwertung erfahren hat, kann genau schildern, wie es gekommen wäre, wenn ihre Mutter sie geliebt und anerkannt hätte.

Ich glaube, wir sitzen einer Lebenslüge auf, wenn wir meinen, wir hätten so etwas wie ein Anrecht auf eine glückliche Kindheit. Denn dann kann das, was uns widerfahren ist, leicht zur Ausrede werden, um nicht das Beste aus seinem Leben zu machen. Heute. Jetzt. Mit deiner unglücklichen oder traurigen Vergangenheit.

Ich glaube, dass wir hier eine Denkkorrektur vornehmen müssen:

  • Ja, wir spüren so etwas wie unser wahres Potenzial, unsere eigentliche Natur. Und es ist ein Geschenk, wenn wir das wahrnehmen können. Hochsensible sind hier ganz besonders empfänglich.
  • Aber nein, wir haben keinen Anspruch darauf, die Umstände für die perfekte Entfaltung dieses Potenzials in die Wiege gelegt zu bekommen.

Schwierigkeiten sind Entwicklungsanreize

Im Gegenteil. Ich glaube, dass genau hierin der Sinn liegt. Wir spüren die Sehnsucht danach, zu diesem wunderwollen Menschen zu werden, den wir in uns fühlen. Der sich geliebt weiß und der selbst liebt, sich und andere, der sich mit gelassener Selbstverständlichkeit durchs Leben bewegt und das Beste aus seinen Fähigkeiten macht. Ein Mensch, der im Reinen mit sich ist. Dieses Wissen um die eigene wahre Natur ist so etwas wie eine Zielvorgabe, ein Motor. Es löst in uns die Sehnsucht aus, genau dort schon zu sein. Ja, es wäre so schön, wenn wir dieser Mensch schon wären.

Sind wir aber nicht. Und wir fühlen den Schmerz, wenn wir feststellen, dass wir davon noch ganz schön weit entfernt sind. Das Leiden entsteht durch die Diskrepanz aus dieser tiefen Sehnsucht und der Realität. Die Realität hält uns quasi ständig den Spiegel vor, was uns von diesem wunderschönen Ideal noch trennt.

Den Plan des Lebens verstehen

Ich glaube, dass das Leben Recht hat. Immer. Es hat dich aus ganz bestimmten Gründen in dein Leben gestellt. Weil du hier etwas lernen solltest. Wenn wir die Biografien von großen oder weisen Menschen lesen, stellen wir fest, dass die wenigsten von ihnen in leichten Umständen aufgewachsen sind. Sie hatten es mitunter sogar besonders schwer, mussten Krieg, Lebensgefahr, Vertreibung, Verluste erleiden. Es stimmt also ganz offensichtlich nicht, dass ein glückliches Leben nötig ist, damit man zu einem wundervollen Menschen wird.

Die Natur zeigt uns, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Es wurde erforscht, dass Kinder, die in einem extrem sauberen Umfeld aufwachsen, häufiger krank sind und eher Allergien entwickeln als z.B. Bauernhofkinder. Das Immunsystem des Kindes hat auf dem Bauernhof die Gelegenheit, sich mit „Störungen“ von außen in Form von Bakterien auseinanderzusetzen. Es entwickelt Strategien um damit klarzukommen und wird genau durch diese Auseinandersetzung mit schädlichen Anreizen resistent und stark.

Du entwickelst deine Kompetenz

Genauso sehe ich die Konfrontationen, die uns das Leben beschert. Dir werden bestimmte Störfaktoren zugemutet, die bewirken, dass du bestimmte Abwehr- oder Überlebensstrategien entwickelst. Wie du als Kind mit Ablehnung oder Gewalt oder Einsamkeit umgegangen bist, ist ein Teil deiner Persönlichkeit von heute geworden. Vielleicht hast du eine besonders rege Fantasie entwickelt, um die Einsamkeit zu füllen oder du hast es gelernt, durch Witz oder Wortgewandtheit auf dich aufmerksam zu machen, weil du sonst übersehen worden wärest. Oder du vermittelst anderen Menschen, wie man Konflikte auf verbale Art angehen kann anstatt mit körperlicher Gewalt.

Zahlreiche Menschen machen die grausamen oder unglücklichen Kindheitserfahrungen zu etwas extrem Wertvollen: Die Streetworkerin, die die Härten des vernachlässigten Straßenkindes genau kennt und nun anderen Kindern die richtige Hilfe bieten kann, die Tochter einer Alkoholikerin, die zur Barkeeperin geworden ist und so Kreativität und Verantwortung im Umgang mit Alkohol entdeckt hat, die Pfarrerin, die von ihrer Mutter stets abwertende Gardinenpredigten über sich ergehen lassen musste und nun als reifer und herzensweiser Mensch vor einer Gemeinde wunderschöne Predigten hält, die Tantramasseurin, selber Opfer von Missbrauch, die nun einen achtsamen, von allumfassender Liebe genährten Umgang mit Sexualität vermittelt.

Hätten diese Menschen das ohne ihre von Widrigkeiten geprägte Geschichte erreicht? Vermutlich nicht. Unser ganz persönliches Unglück kann der Motor sein, etwas zu bewegen. Und unsere Ahnung von dem Menschen, der wir eigentlich sind, kann die Leitschnur sein, an der wir uns orientieren.

Beides zusammen ist wichtig und richtig. Die Themen, die wir präsentiert bekommen, lassen uns zu Experten auf genau dem Gebiet werden. Indem wir es besser machen. Indem wir den Schatz erkennen, der in unseren Erfahrungen liegt und indem wir anerkennen, dass wir noch nicht da sind, wo wir gerne wären. Denn dann können wir uns auf den Weg machen. Schritt für Schritt. Du kannst.

 

PS: Übrigens war ich als Kind überzeugt davon, dass ich mich nicht ausdrücken kann. Ich habe mich weder schriftlich noch mündlich verstanden gefühlt und war mir sicher, dass ich einfach nicht formulieren kann…

 

 

 

 

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