Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Selbstbild

Frau mit Augenbinde schaut auf ihre Augen ohne Augenbinde.

Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Selbstbild

Wie kommt es eigentlich, dass so viele Menschen ein schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben? Um gleich ein Missverständnis von vornherein aufzuklären, erst einmal ein paar Worte zum Thema „Selbstbewusstsein“. Im allgemeinen Sprachverständnis werden häufig Menschen als selbstbewusst angesehen, die laut und sicher wirkend auftreten. Demzufolge empfinden sich introvertierte Menschen dann häufig als wenig selbstbewusst, weil sie leiser daherkommen. Hier liegt nach meinem Verständnis ein fettes Missverständnis vor. Selbstbewusstsein ist die Fähigkeit, sich selbst wahrnehmen zu können und sich seines Fühlens, Denkens und Handelns bewusst zu sein. Also zu erkennen: Wie fühle ich mich gerade, was denke ich, wie sehe ich mich, wie verhalte ich mich, wo passt das eine vielleicht nicht zum anderen, was sagt mir die Reaktion meiner Umwelt über das Bild, das ich nach außen abgebe und dergleichen mehr.

Mit Lautstärke und Extrovertiertheit hat das erst einmal gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Ich kenne viele leise, introvertierte Menschen, die sich ihrer selbst sehr bewusst sind. (Meistens ihrer Schwächen stärker als ihrer Stärken.) Und genauso gibt es laute, extrovertierte Menschen gibt, die sich ihrer selbst sehr bewusst sind.

Und es gibt Menschen, die laut und dominant auftreten, um eine Sicherheit vorzuspielen, die sie tief im Inneren gar nicht empfinden. Das sind Menschen, die sich ein Ego zugelegt haben, das von äußeren Faktoren wie Reichtum, Markenkleidung, dickem Auto, Statussymbolen, Dominanz, Macht usw. gespeist wird. Es gaukelt Sicherheit vor, die aber nicht ganz echt ist. Dahinter steckt häufig gerade kein Selbst – Bewusstsein. Sie sind sich ihres Verhaltens nicht bewusst, merken nicht, dass sie ihren Wert aus vergänglichen Attributen beziehen. Diese Art von Selbstsicherheit ist anfällig. Sie bröselt ganz schnell in sich zusammen, wenn die äußeren Attribute verloren gehen, wenn das schöne Bild der perfekten Familie Risse bekommt, wenn die Machtposition verloren geht oder das Geld nicht für ein „standesgemäßes“ Auto reicht.

Ich glaube, dass viele hochsensible Menschen dagegen überdurchschnittlich gut in der Lage sind, sich selbst wahrzunehmen. Sie merken genau, wo sie in ihrem Selbstwert schwächeln, wo sie sich nicht stabil und souverän fühlen. Sie bekommen mit, wo sie versuchen mit Statussymbolen nachzuhelfen und sie spüren auch, dass es nicht richtig gelingt. Sie spüren dieses Leck in der Selbstannahme. Und sie erliegen häufig ein Stückweit der Verführung zu denken, andere wären weiter, sicherer, selbst-bewusster. In Wirklichkeit zweifeln andere Menschen vielleicht einfach nur weniger an sich selbst, weil sie sich ihrer selbst weniger bewusst sind. Sie sind wie sie sind und stellen das nicht so stark in Frage wie ein Mensch, der in der Lage ist, sich selbst und die ganzen vielen Verhaltensoptionen wahrzunehmen.

Fluch und Segen zugleich

Was eigentlich eine wunderbare Fähigkeit ist, nämlich das Bewusstsein zu erkennen, wann ich mich sicher fühle und mich selbst annehmen kann und wann nicht, ist gleichzeitig ein Fluch, weil es uns den Spielraum eröffnet, immer genau auf das zu schauen, was noch nicht so gut ist. Die Menschen, die zu mir in die Gruppen oder ins Einzelcoaching kommen, sehen sich selbst fast immer negativer als ich sie von außen sehe. Ich kann wohlwollend ihre Stärken erkennen, kann sehen, was sie in ihrem Leben schon erreicht haben (teilweise unter schwierigen Bedingungen), kann spüren, wo ihr Potenzial sie eigentlich haben will und kann ihre Schwächen liebevoll stehen lassen. Sie selbst haben häufig genug den Blick starr auf die Schwächen und Mängel gerichtet und könnten mit Leichtigkeit eine Liste herunterbeten, was sie alles nicht gut können und wo sie deutliche Mängel zu verzeichnen haben.

Das Problem daran ist: Wenn man so von sich denkt, handelt man automatisch so, dass man sich diese Sichtweise immer wieder selbst bestätigt. Wenn du erlebt hast, dass du in der Schule Außenseiter warst, ein Mauerblümchen, das niemand beachtet hat, kann sich das so in deinem Selbstbild verfestigen, dass du nicht in der Lage bist, neue Erlebnisse zu generieren, die dir zeigen: „Ja, es war so und es muss nicht so bleiben. Ich kann heute für andere Erlebnisse sorgen.“ Wer erlebt hat, dass er in seiner Jugend für seine Ideen gefeiert wurde und immer im Mittelpunkt stand, der wird das Erlebnis, sich als Mauerblümchen zu fühlen, vermutlich kaum je kennenlernen, weil sein Fokus sich nicht darauf richtet. Und gleichzeitig hat er andere Baustellen, vielleicht ist er ein Mensch der ein großes Problem damit hat, seinen Papierkram in Ordnung zu halten und sich dadurch regelmäßig Ärger mit den Behörden einhandelt.

Merkst du was? Jeder Mensch hat seine empfindlichen Bereiche. Die Punkte, an denen er nicht gut ist, die er als Mangel oder Schwäche empfindet. Die Frage ist, wie du damit umgehst:

Schaust du auf den Mangel und sagst dir immer wieder, was du alles nicht kannst und hinderst dich so permanent an der Entfaltung deiner Stärken? Oder ignorierst du deinen Mangel konsequent, um dein Selbstbild nicht zu gefährden, bis dir das Wasser bis zum Hals steht? Beides ist wenig förderlich.

Der aus meiner Sicht beste Umgang mit den eigenen Stärken und Schwächen ist, sie richtig gut kennen zu lernen. Das ist Selbst-Bewusstsein. Zu wissen, worin du richtig, richtig gut bist und diese Eigenschaften ins Leben zu entfalten. Das ist das, was dich glücklich und zufrieden macht. Ent-Faltung all deiner schönen, weichen, zarten, lauten, dominanten, verbindenden, Glück stiftenden, gegensätzlichen, kraftvollen Facetten. Und zu wissen, worin du nicht so gut bist und dafür zu sorgen, dass du so lebst, dass sie dir das Leben nicht unnötig schwer machen. Entweder, indem du deine Lebensform entsprechend anpasst oder indem du dir Hilfe holst für Dinge, die sich nicht vermeiden lassen, die du aber selber nicht machen möchtest. Zufriedenheit entsteht, wenn wir gemäß unserer wirklichen Stärken leben, uns in Kontakt bringen, wenn wir wirksam sind in dem, was uns wirklich wichtig ist. Das gibt uns ein Gefühl von Sinn. Die Erfahrung deiner Wirksamkeit hat starke Auswirkungen auf deinen Selbstwert.

Selbst-Bewusstsein ist ein Austauschprozess

Gerade introvertierte Menschen sind häufig ziemlich gut darin, sich alleine mit sich auseinanderzusetzen. Viele Selbsterkenntnisse gewinnen wir im stillen Kämmerlein. Und doch gibt es Punkte, an denen wir alleine nicht weiterkommen. Da brauchen wir die Rückmeldung anderer Menschen. Jeder Mensch hat blinde Flecken. Das sind die Punkte, die wir nicht wahrnehmen können, weil sie wie Charaktermerkmale zu uns zu gehören scheinen. Wir kennen sie von Geburt an und sehen sie als unsere Identität an.

Andere Menschen aber können sie sehen. Weil sie nicht verstrickt sind. Sie sind in der Lage, dir zu spiegeln, wo sich dich als größer, strahlender, liebenswerter empfinden als du dich gibst. Oder sie können dir rückmelden, dass sie dich total sympathisch finden, wenn du deine Maske abnimmst, wenn die Fassade bröckelt.

Stell dir einen gut aussehenden jungen Mann vor, sportlicher Typ, total freundlich, unaufdringlich, zugewandt, gut in der Kommunikation, sehr intelligent. Ein Mensch, der Gedanken auslösen kann wie „Wenn ich so wäre, dann wäre alles gut. Dann hätte ich keine Probleme mehr. Was für ein Selbstbewusstsein!“ Und dann setzt sich dieser junge Mann vor die Gruppe und sagt, er sei da, weil er das Gefühl habe, überhaupt kein Selbstbewusstsein zu haben. Er fühle sich innerlich total unsicher.

Weißt du, was das macht?
Es berührt. Weil niemand das vermuten würde. Wenn du so unmittelbar Einblick in das Innenleben eines Menschen bekommst und merkst, wie groß die Kluft ist zwischen Wirkung und Selbstbild, ist das ein aufrüttelndes Erlebnis, weil du merkst, wie unvollständig dein Bild von diesem Menschen war. Und es schafft Nähe, wenn ein Mensch sich so offen zeigt. Einem Menschen, der sich derart offen in seiner Verletzlichkeit zeigt, fliegen Mitgefühl und Sympathie zu. Es entsteht Verbindung. Dieser Mensch macht die Erfahrung, dass er gerade mit den Seiten, die er normalerweise so gut zu versteckten weiß, angenommen wird. Das ist Balsam und Heilung für sein psychisches System. Es ist eine Korrektur seiner bisherigen Erfahrungen. Solch ein Erlebnis kann die Basis dafür schaffen, dass es ihm immer leichter wird, sich so zu zeigen, wie er sich tatsächlich fühlt und die Fassade Stück für Stück aufzugeben.

Das sind Erlebnisse, die nur in der Gruppe möglich sind. Das sind heilende Erfahrungen. Das sind Geschenke, die du erhalten kannst, wenn du die Deckung verlässt und dich auf neues Terrain vorwagst. Diese Erlebnisse haben die Kraft, alte, negative Erfahrungen zu überschreiben.

Ja, es braucht Mut und ja, es lohnt sich. Dafür sind wir mit unseren Gruppen unterwegs.

Herzlichst

Barbara

Wir freuen uns auf mutige Selbsterforscher

Rückenwind Abendgruppe ab 17. Mai

Rückenwind 2.0 – Intensives Halbjahrestraining für bewusste Menschen (Wochenendseminare)

4 Kommentare
  • Antje Becker
    Antworten

    Hallo Barbara,
    ersteinmal vielen Dank für den großartigen Artikel, der erklärend Unterschiede definiert. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass unterschiedliche Begriffe in einen Topf geworfen werden. Deshalb freue ich mich über Menschen, die Klarheit schaffen. 🙂

    Ich habe zwei Fragen. Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, dass gerade im Berufsleben Entfaltung nicht gewünscht ist. Dort ist häufig starke Anpassung, Mund halten und Ruhe gewünscht. Wie passt das zusammen mit dem Punkt sich selbst zu entfalten? Ich habe das Gefühl, dass kleinhalten und klein gemacht werden in der Gesellschaft stärker gelebt werden als Entfaltung. Wie passe ich als Mensch mit Entfaltung da rein?

    Ich bin gespannt auf Deine Antwort.

    9. Mai 2018at13:38
  • Tanja Herrschaft
    Antworten

    Wow, dieser Beitrag berührt mich bis in’s Mark.
    Soviel Parallelen zu meinen eigenen Empfindungen im Moment.
    Ich weiß seit ca. 5 Jahren, daß ich ein introvertierter, hochsensibler Mensch bin und stecke seit dem, in einem unaufhörlichen Prozess.
    Mir fällt sofort das Buch von Brené Brown ein: Verletzlichkeit macht stark.
    Auch wenn ich mal schlechte Tage habe, dieser Beitrag baut mich wieder auf, an mich zu glauben, auch wenn mein Umfeld einfach anders tickt.
    Vielen Dank und alles Liebe!

    9. Mai 2018at13:42

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