Das Leben hat immer Recht

rote Beeren von Schnee bedeckt.

Das Leben hat immer Recht

Weißt du, wo Leid und Wut entstehen, wo Unfrieden beginnt? – Im Unterschied zwischen Erwartung und Realität.

Gerade in dieser Zeit um Weihnachten herum bekommt das Thema wieder eine besonders starke Bedeutung. Denn an Weihnachten passiert genau das: Unsere tiefsten, kindlichsten, reinsten Wünsche prallen auf die Wirklichkeit. Oder etwas genauer: Wir spüren in diesen Tagen verstärkt die tiefe Sehnsucht danach, von anderen Menschen gesehen, erkannt und angenommen zu werden, so wie wir wirklich sind. Wir möchten, dass unsere Wünsche erkannt und aufgegriffen werden und wir durch die Geschenke spüren: Der andere sieht mich. Diesen Wunsch nach Gesehenwerden tragen wir immer in uns– jeder Mensch hat ihn – aber in diesen Tagen drängt er stärker als sonst ins Bewusstsein.

Die Realität ist oft anders

Was wir vorfinden, ist häufig weit davon entfernt. Es wird eine zwangsverordnete zuckergussklebrige Harmoniedecke über alles gebreitet, der Kommerz trällert Lieder von Liebe und Frieden und erzeugt damit eigentlich nur Stress. Weil wir merken, dass echter (innerer und äußerer) Frieden ganz schön weit weg ist. Dass wir eigentlich einen großen Hunger in uns haben, die Sehnsucht die echte, große Liebe zu spüren, die wir so gerne von unseren Eltern in vollem Umfang bekommen hätten. Besonders Hochsensible haben meistens ein genaues Gefühl dafür, wie es hätte sein müssen, sich richtig richtig angenommen zu fühlen. Und die Realität war nicht so. Bei fast niemandem.

Und wir spüren vielleicht auch verstärkt, dass wir selber auch oft nicht in der Lage sind, Liebe zu empfinden. Zum Beispiel für unsere Eltern oder Geschwister oder Partner. Um das nicht fühlen zu müssen, greifen viele Menschen dann lieber zu kommerzialisierten oder tradierten Harmonie-Ritualen. Es ist ein bisschen so wie Luft anhalten. Und nach Weihnachten – Puuuh – gründlich ausatmen, weil man es geschafft hat, all die „störenden“, nicht so schönen Gefühle an der Leine zu halten. Und dann schnell zurück zur Normalität.

Natürlich gibt es auch Menschen, die das Miteinander und die Rituale wunderschön finden und die es in vollen Zügen genießen. Es gibt aber auch ziemlich viele Menschen, denen es an Weihnachten nicht gut geht. Die unter der Diskrepanz zwischen dem, was sie sich wünschen (oder als Kind gewünscht hätten) und dem was wirklich ist, leiden. Und hier sind wir bei der Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität.

Wenn der Wunsch und die erlebte Realität weit auseinander liegen, dann erzeugt das, solange es unbewusst bleibt, eine große Spannung, Leid und Stress.

Den Unterschied zwischen Wunsch und Realität akzeptieren

Um die Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Realität nicht fühlen zu müssen, versuchen wir häufig, uns die Realität passend zu machen. Dies wird an Weihnachten mit größtem Elan betrieben. Deshalb gibt es die Harmonie-Ansage. Deshalb müssen alle ihre Rollen so einnehmen, wie es das (meist mütterliche) Drehbuch vorsieht. Wenn wir alle so tun als wären wir in Frieden miteinander, dann ist das auch so. Dann kann man es glauben. Es ist ein bisschen so, als würde man sich eine andere Realität basteln. Wir tun einfach so „als ob“.

Als ob wir uns alle lieben würden.

Als ob zwischen uns alles in bester Ordnung wäre.

Als ob Frieden herrschte in uns und untereinander.

Das möchten wir so gerne haben und glauben.

Das ist nicht unbedingt schlecht, denn manchmal färbt eine Rolle auch ein bisschen auf das tatsächliche Empfinden ab. Insofern möchte ich es gar nicht verurteilen. Für manche Menschen funktioniert das ganz gut.

Wer aber anders fühlt und diese Gefühle stark wahrnimmt, der gerät dadurch in ein Dilemma. Er spürt, dass es hier darum geht, einen Schein zu erzeugen. Und er fühlt, dass die eigenen Gefühle etwas ganz anderes sagen. Dass in ihm die Zeiger nicht (nur) auf Harmonie stehen, sondern (auch) auf Schmerz, Enttäuschung, innerer Not.

Den Abstand zwischen Wunsch und Realität wahrnehmen

Kennst du das? Dann gratuliere ich dir! Du bist dabei, den Abstand zwischen Wunsch und Realität zu realisieren. Wenn dir bewusst wird, dass dein Wunsch ein anderer ist als die Realität, und wenn du zu diesem Unterschied Ja sagen kannst, bist du dem Frieden in dir einen großen Schritt näher gekommen. Dann kannst du sehen, dass deine Wünsche da sind und alles Recht der Welt haben da zu sein!! Und gleichzeitig kannst du sehen, dass du keine Garantie hast, deine Wünsche erfüllt zu bekommen. Ja, wir wünschen uns die allumfassende Liebe unserer Eltern. Und nein, die meisten von uns erleben sie nicht in dieser reinen Form. Das anzuerkennen ist ein riesengroßer, wichtiger Schritt. Denn er akzeptiert die eigene Realität so, wie sie nun mal ist. Und achtet gleichzeitig den Wunsch als Wunsch an sich, ohne den Anspruch, dass er erfüllt werden muss. Es ist wie ein Ja zu beidem.

Ja, ich habe diese große Sehnsucht nach Liebe in mir.

Und Ja, ich sehe, dass meine Eltern sie mir nicht geben konnten.

Und Ja, ich werde mir einen anderen Weg suchen, meine Sehnsucht zu stillen. (Hier kommt die Verantwortung des erwachsenen Menschen ins Spiel.)

Weißt du, dass das Leben genau das will? Dass du es in seiner Lebensrealität anerkennst und Ja sagst? Denn es hält, wenn du das tust, Geschenke für dich bereit, die dich wachsen lassen.

Eine wahre Weihnachtsgeschichte

Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, die so in diesen Tagen passiert: K. lebt alleinerziehend mit ihren beiden Kindern im 2. Stock eines Mietshauses. Das eine Kind, die Tochter, ist seit einem Unfall querschnittsgelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. K. ist selbständig, ernährt die Familie und wuppt das anspruchsvolle Leben, das vor Weihnachten ja noch einmal etwas anstrengender ist, mit großer Power. Jetzt ist, eine Woche vor Weihnachten, der Fahrstuhl ausgefallen. Das Ersatzteil ist nicht zu bekommen, so dass eine Reparatur gerade nicht möglich ist. Die Kinder müssen zur Schule, die Tochter zu ihren Therapien und dazwischen liegen jedes Mal zwei Stockwerke.

Ich finde, das ist so eine Situation, in der man die Tücken des Lebens verfluchen möchte. Als ich mit K. sprach, war bereits Tag 6 des Lebens ohne Fahrstuhl. Dieses Gespräch hat mich zutiefst beeindruckt. Mit Jammern über die Situation hat sie sich überhaupt nicht aufgehalten. Ihre Kernaussage war Anerkennung dafür, was das Leben ihr da gerade beibringt, nämlich

  • Um Hilfe zu bitten (was ihr als selbständiger Powerfrau überhaupt nicht leicht fällt).
  • Hilfe annehmen ohne eine Gegenleistung zu liefern (eine ebenso schwierige Herausforderung für sie).
  • Die Erfahrung, dass tatsächlich Menschen da sind, die ihr diese Hilfe gerne zukommen lassen. Jeden Tag.

Sie erzählte, dass alle Männer im Haus in Bereitschaft sind, die Tochter und den Rollstuhl die Treppen runter und wieder hoch zu tragen. Und dass ein Freund sich morgens extra den Wecker stellt und quer durch die Stadt fährt, um zu helfen. Und sie hat keine andere Wahl, als das anzunehmen und auszuhalten. Und ich bin mir sicher, dass sie den helfenden Männern damit ein Geschenk macht. Denn sie werden sich gut fühlen, weil sie helfen können, weil sie gebraucht werden, weil sie für ihre Leistung geschätzt werden.

Für eine dermaßen selbständige, starke Frau, die gewohnt ist, alles für sich und ihre Kinder alleine zu meistern, ist das eine echt fette Lernerfahrung. Freiwillig hätte sie sich die bestimmt nicht gesucht. Dazu musste es erst so dicke kommen.

Das wunderschöne daran ist: Sie ist ein Mensch, der die Lektionen des Lebens erkennen und annehmen kann. Sie war voller Respekt dafür, wie sie zu diesem Wachstumsschritt gezwungen worden ist. Sie ist nicht in der Verzweiflung stecken geblieben – die sie natürlich auch gefühlt hat – sondern sie hat akzeptiert, dass es jetzt gerade so ist. Und sie hat Lösungen gesucht, die eindeutig außerhalb ihrer Komfortzone lagen.

Die Wahl, das Leben mit dem, was es uns anbietet anzunehmen oder abzulehnen, die haben wir immer. Ja, das Leben fordert uns. Nein, es läuft nicht so, wie wir es gerne hätten. Aber ist dann das Leben falsch oder sind es unsere Erwartungen? Wie oft vergeuden wir unsere Energie in Ärger über etwas, das wir nicht ändern können. Und die Geschichte von K. zeigt, welch schöner Wachstumsschritt darin enthalten sein kann, wenn wir das annehmen, was das Leben uns anbietet. Rückblickend erkennen wir manchmal, dass es ganz gut war, wie es gekommen ist, auch wenn es uns erst einmal nicht gepasst hat. Vielleicht gelingt es uns demnächst auch schon eher, das Leben anzunehmen so wie es gerade ist. Wenn wir  ändern, was sich ändern lässt und hinnehmen, was nicht zu ändern ist, haben wir auf jeden Fall etwas gewonnen: Einen Zuwachs an Seelenfrieden, weil wir die Gegebenheiten schneller akzeptieren. Weil wir nicht mehr gegen den Unterschied zwischen Wunsch und Realität kämpfen müssen. Darin liegt echter Frieden.

Herzlichst

Barbara

4 Kommentare
  • mareike spille
    Antworten

    Liebe Barbara,

    danke für diesen wunderbaren Artikel und die Geschichte aus dem wahren Leben! Er kommt genau zum richtigen Zeitpunkt….

    Es ist eine Herausforderung, das Leben so anzunehmen, wie es ist, wenn man andere Pläne gemacht hat- und dabei offen und erwartungsvoll dem Leben gegenüber und liebvoll zu sich selbst zu sein!!!
    Aber genau das und das Anerkennen und Annehmen der Realität ist ein wichtiger Schritt in Richtung innerem Frieden…Wie beschreibst….

    Viele liebe Grüße und frohe Weihnachten;)!
    M.

    23. Dezember 2017at20:08
  • Liebe Barbara, dein Text hat – wie schon öfter – Nachdenken und -fühlen bei mir ausgelöst.
    Ich habe überlegt, warum es mir dieses Jahr mit und nach Weihnachten so viel besser ging als sonst. Ergebnis: Ich habe mich erstmalig nicht als Gastgeberin und sorgende Mutter gefühlt, sondern konnte Hilfe dankbar annehmen und Muße als angenehm empfinden.
    Danke dass dein Text den Anstoß gegeben hat.

    Auch dir ein gutes neues Jahr!

    Heide

    3. Januar 2018at10:08

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